So waren die Darmstädter Tage

Friedberg (gk). Über den jungen Fritz Usinger (1895 bis 1982) in den Jahren von 1910 bis 1919 war bis zu den Forschungen von Andrej Seuss nur wenig bekannt. Der Friedberger Pädagoge und Philologe hat in den vergangenen Jahren mit seiner Spurensuche in mehreren Archiven maßgeblich dafür gesorgt, dass sich diese Wissenslücke allmählich schließt. Die Ergebnisse seiner Arbeit hat Seuss bereits in Vorträgen anhand zahlreicher Originaldokumente der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.
So auch am Samstagabend im voll besetzten Kesselhaus des Theaters Altes Hallenbad. An dessen 128. Geburtstag präsentierte Seuss seinen Gästen eine materialreiche biografische Skizze (Fotos, Briefe, erste lyrische Versuche, Zeitungsartikel) des 15- bis 24-jährigen Usingers. Von 1910 datiert die erste Begegnung des Heranwachsenden mit dem dreizehn Jahre älteren Albert H. Rausch (ab 1929 Henry Benrath).
Es ist der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft, wie Seuss anhand von Briefen dokumentierte.
Ein im Friedberger Stadtarchiv aufgefundenes Fotoalbum vermittelt auch einen optischen Eindruck Usingers, seiner Schwester und von deren Freundeskreis (unter anderem Carl Zuckmayer und Carlo Mierendorff). Nach dem Abitur im Frühjahr 1914 wird der 19-jährige Usinger zur kaiserlichen Armee eingezogen und wenige Monate nach Kriegsbeginn an die serbische Front abkommandiert.
In einem von Seuss gefundenen Brief aus dem Jahr 1915 übt Usinger heftige Kritik an der weitverbreiteten literarischen Verherrlichung des Krieges. Die Bekanntschaft mit dem zwei Jahre jüngeren Carlo Mierendorff, der sich in den 20er Jahren der SPD anschließen wird, hinterlässt beim jungen Usinger deutliche politische Spuren, erklärte der Referent.
Erste Essays in der Zeitung
Der Friedberger Leutnant beginnt nach seiner Verwundung ab 1916 für die zweisprachige »Gazette de Lorraine« («Lothringer Zeitung«) zu arbeiten. Unter ihrem Herausgeber Henry Benrath erscheint sie in Metz, der Hauptstadt des vom Dt. Kaiserreich besetzten »Reichslands« Lothringen. Obwohl ein Propaganda-Organ der Obersten Heeresleitung, kann der 21-jährige Usinger hier erste lyrische und essayistische Texte veröffentlichen. In einem eigens für seinen Vortrag gefertigten Heft mit sieben frühen Gedichten rezitiert Seuss unter anderem »Hymne«, deren letzte Strophe lautet: »Ich will mein Gesicht in Hagel und Regen tragen, mein Gesicht wie ein starrendes Gestein, über das die scheuenden Bäche jagen, irgendwo in den Abgrund hinein.« Der Text wird in der von Hans Schiebelhuth (einem anderen Darmstädter Freund Usingers) gegründeten Zeitschrift »Die Dachstube« im März 1918 veröffentlicht.
Ein halbes Jahr später erscheint Usingers erster Essay »Mystik«. Auch in der von seinem Freund Mierendorff Anfang 1919 gegründeten politischen Zeitschrift »Das Tribunal. Hessische radikale Blätter« (nach dem Vorbild von Georg Büchners Flugschrift »Der Hessische Landbote«) veröffentlicht der 24-jährige Usinger Texte - was ihm unter anderem die heftige Kritik eines gewissen E. Schmahl aus der »Friedberger Zeitung« einträgt.
Im Unterschied zu Mierendorff, dem späteren SPD-Reichstagsabgeordneten (1930 bis 33) und in den Jahren zwischen 1933 und 1938 von den braunen Machthabern durch mehrere »Konzentrationslager« Geschleppten, bleibt Usingers politische Einstellung jedoch ambivalent. Für seinen gut einstündigen, äußerst informativen, medial sehr gut aufbereiteten Vortrag über den jungen Fritz Usinger erhält Seuss viel Beifall. FOTO: GK
