Von Russland an den Raclette-Tisch

Mit der Landung des Fliegers begann das neue Leben. Alena Nemudrova hatte in St. Petersburg ihren künftigen Ehemann kennengelernt. Einen Deutschen. Die beiden entschieden sich dazu, gemeinsam in Deutschland zu leben.
Der erste Eindruck? Alles funktioniert. Fließendes Wasser in den Flughafen-Toiletten, genug Toilettenpapier, Seife. Alena Nemudrova erinnert sich gut ans Ankommen. Im neuen Land, im neuen Leben. Es war Weihnachten. Der 24. Dezember 2004. »Der Tag, an dem ich von St. Petersburg nach Deutschland zu meinem Lieblingsmenschen fliege.« So beginnt ihr Text in dem Buch »Ausgewundert«. Sechs Frauen, die irgendwann nach Deutschland gekommen sind, erzählen darin von ihrer ersten Zeit in der neuen Heimat. »Wir sind alle ausgewandert und haben uns gewundert.« Über manche Dinge, sagt Alena Nemudrova, wundern sie sich noch immer.
Über den (deutschen) Zweck von Rollläden zum Beispiel. »Ich dachte immer, sie sind dazu da, um vor Sonne zu schützen. Nicht vor den Nachbarn.« Auch wenn Freundinnen aus Russland kommen, fragen sie: »Wieso machen die Leute abends die Rollläden runter? Was haben sie zu verstecken?«
Alena Nemudrova ist in Kirgistan geboren und in Russland aufgewachsen. Studiert hat sie in St. Petersburg - und dort, während sie gerade an ihrer Doktorarbeit in Umweltmanagement gearbeitet hat, ihren zukünftigen Mann kennengelernt. Einen Deutschen, der wegen eines Projekts an der Uni in St. Petersburg gewesen ist. »Wenn mir davor jemand gesagt hätte, ich lebe irgendwann in Deutschland, hätte ich es nicht geglaubt.« Die Heimat zu verlassen war eine große Entscheidung, sagt Alena Nemudrova. Sie schmunzelt: »Aber Männer sind weniger flexibel. Deswegen war es klar, dass ich nach Deutschland gehe.«
Am selben Tag, an dem sie ihre Doktorarbeit an der Uni verteidigen musste, ging ihr Flieger. »Ich habe mich auf diese neue Welt gefreut!«
Die neue Welt beginnt mit einem Weihnachtsessen bei den künftigen Schwiegereltern. Raclette. »Die Zutaten sind mir natürlich alle bekannt, aber diese Art der Zubereitung nicht.« Überhaupt ist vieles fremd für sie an diesem Abend. Weihnachtslieder singen (»In Russland singt man bei Festen am Tisch zusammen mit vielen Leuten nur alte Volkslieder und auch meistens nach dem Genuss von viel Wodka.«). Das ganze Weihnachtsfest an sich. »In Russland feiert man Weihnachten nur in der Kirche, das war es dann auch schon.«
Das Weihnachtsfest, die vielen damit verbundenen »Termine« sind nicht das einzige, worüber sich Alena Nemudrova in ihren ersten Wochen in Deutschland wundern wird. Da ist zum Beispiel der Satz, den sie immer wieder zu hören bekommt, etwa an der Supermarktkasse. »Einen schönen Tag noch.« Am Anfang, erzählt sie, habe sie gedacht, sie sehe aus, als ob sie einen schlechten Tag gehabt habe und man ihr deswegen einen besseren wünscht. »Dann habe ich verstanden, dass das eine Redewendung ist und nichts Persönliches.«
Der zwischenmenschliche Umgang ist ohnehin gewöhnungsbedürftig. Alena Nemudrova hat vier Kinder - und deswegen Spielplatzerfahrung. Ihr Eindruck von russischen Spielplätzen: »Wenn ein Kind auf den Spielplatz kommt, kommt sofort ein anderes, sagt ›Hallo‹ - und weg sind sie zum Spielen.« In Deutschland: »Hier spielen die Kinder nur mit denen, mit denen sie gekommen sind.« Und, sagt sie: »Das geht so bis ins Erwachsenenalter weiter.«
Dinge, über die sich Alena Nemudrova wundert, werden ihr wohl immer wieder begegnen. Jetzt, beim Schreiben für das Buch, hat sie noch einmal intensiver darüber nachgedacht - übers Ankommen, über die Eindrücke, die Unterschiede: »Ich versuche jetzt, alle meine Entdeckungen zu teilen, ihnen Namen zu geben«, schreibt sie. Und: »Ich versuche, sie in Schubladen zu räumen - typisch deutsch, gut gelernt, oder?«
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»Ausgewundert« ist ein Buch übers Ankommen und übers Wundern. Sechs Frauen erzählen darin die Geschichten ihrer ersten Tage und Wochen im neuen Leben in Deutschland. Auf die Idee, die Lebensgeschichten der Frauen festzuhalten, kam Angela Klein, Deutsch-Dozentin in der Erwachsenenbildung. Sie lernte die Frauen im Deutschkurs kennen und konnte sie dazu motivieren, die Geschichten ihrer ersten Zeit in Deutschland zu schreiben. Das Buchprojekt wird gefördert vom Bundesprogramm »Demokratie leben!«.
Die Geschichte von Alena Nemudrova trägt den Titel »Lebenssprung der Liebe«. Hier ein paar Auszüge aus ihrem Text.
Ich mag die deutsche Sprache, was am meisten meinem unkonvetionellen Deutschlehrer zu verdanken ist. (...) Er hatte immer Zeit und Lust, meine vielen Fragen durchzudiskutieren. Wieso sagt man »Viel Spaß bei der Arbeit oder in der Schule?«, dabei geht es um Arbeit und nicht um Spaß?(...) Wieso kann man auf die Frage »Wie geht’s?« nichts anderes als »gut« antworten? (...) Und besonders wichtig - wie spricht man über Liebe auf Deutsch, wenn die Sprache doch so genau ist?
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Die Leute hier dürfen so leben, wie sie es sich vorstellen. Sie dürfen sein, wie sie sind. Sie müssen keine Angst haben, dass ein falsches Wort das Leben kosten wird. Sie müssen sich nicht vor dem Staat und seinen Darstellern fürchten, nicht das Geld in den Socken unter den Kissen verstecken, nicht immer fürchten, was morgens alles passieren kann.
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Was mir noch bei meiner Recherche so sehr aufgefallen war, ist die natürliche, ungekünstelte Schönheit der älteren deutschen Frauen. Sie sind sehr gepflegt, mit Stil und Charme angezogen, sehr natürlich und leicht geschminkt. Ich habe sie gerne bewundert und den Vergleich zuungunsten meiner russischen Bekannten gezogen. Ich wünschte mir in jedem Fall, später auch so zu sein - bei mir und frei.
Das Buch »Ausgewundert« ist im Selbstverlag erschienen. Es ist zurzeit vergriffen, wird aber bereits nachgedruckt. Es wird dann ab Mitte Januar wieder erhältlich sein. Informationen und Kontakt: ausgewundert@ gmail.com.