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»Wir rufen nach Erinnerung«

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Von: red Redaktion

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Die Moderatorinnen Alicia Schneider und Naemi Kux (r.) hören der Melodie »Tränen aus Potulitz« zu, die Mieczylaw Grochowski auf der Trompete spielt. Er komponierte sie für die verstorbenen Kinder in der NS-Zeit. © pv

Friedberg (pm). Die Grauen der NS-Zeit sind für uns unvorstellbar. Was heute historisches Wissen ist, war für andere Realität. Der Holocaust-Überlebende Mieczylaw Grochowski brachte den Augustinerschülerinnen und -schülern diese Realität jetzt näher. Die Schülerinnen Emily Jette Strohm, Chiara Palmer und Jule Watjer haben einen Bericht darüber verfasst.

Mieczylaw Grochowski erzählte in Anwesenheit von Bürgermeister Dirk Antkowiak und Vertretern des Auschwitz-Komitees von seinen Erlebnissen im Arbeitslager Lebrechtsdorf-Potulitz im ehemals von Deutschland besetzten Teil Polens. Antkowiak unterstrich, Zeitzeugenberichte seien essenziell, um abstraktes Wissen zu veranschaulichen. Neidhardt Dahlen vom Auschwitz-Komitee sagte, Hass und Angst entstünden aus Unwissenheit, der durch Aufklärung entgegengewirkt werden könne.

Mieczylaw Grochowski, auch Mietek genannt, wurde 1939 in Pommern als jüngstes von acht Kindern geboren. Da sein Großvater und Vater sich der Germanisierung in Polen verweigerten, wurde die Familie im Frühling 1943 verhaftet. Ein Großteil der Familie wurde in Viehwaggons zu verschiedenen Konzentrations- und Arbeitslagern deportiert.

Keine Kraft zum Weinen

Während seine Geschwister und sein Vater arbeiten mussten, blieb Mietek bei seiner Mutter, da er erst vier Jahre alt war. Gemeinsam mit drei Familien lebten sie eingeengt in einer Baracke und litten unter Kälte, Hunger und Ungeziefern. Mietek musste in der Baracke Ordnung halten und Blaubeeren und Pilze für die Besatzer sammeln. Kleinste Verstöße gegen Anweisungen führten zu Peitschenhieben. Einmal in der Woche mussten sich alle Insassen in einem großen Saal duschen. Dies sei vor allem für die Frauen beschämend gewesen.

Das Impfen bereitete allen Kindern große Angst, doch viele hätten keine Kraft mehr zum Weinen gehabt. Als Mietek krank wurde, versteckte seine Mutter ihn unter dem Bett. Sie befürchtete, er würde nicht mehr aus der Krankenstube zurückkehren. Einer der Wärter habe ihn gesehen, bewusst ignoriert und ihm somit das Leben gerettet.

Alle drei Monate durfte sein Vater sie besuchen. An das letzte Mal erinnere er sich gut. Es bestand Hoffnung, die Russen würden sie befreien. »Was denkst du, die Russen wären besser?«, habe sein Vater gesagt. Kurz darauf erhielt die Familie ein Telegramm über den Tod seines Vaters. Die genauen Umstände seien unbekannt. Daraufhin kam seine Mutter für drei Wochen in die Krankenstube. Die Kinder hätten sich in dieser Zeit gefühlt wie »obdachlose Hunde«.

Vor der Befreiung durch die russische Armee kam die Erlaubnis, dass Kinder von Angehörigen geholt werden durften. Mietek und seine Geschwister wurden von ihrer Tante abgeholt. Er beschreibt den Aufenthalt bei ihr als die schlimmste Erfahrung seines Lebens. Seine Cousinen hätten sich vor ihm geekelt und ihn einsperrt, wenn er ins Bett gemacht habe. Darunter habe er noch lange gelitten.

Als seine Mutter aus dem Lager befreit wurde und über 200 Kilometer zu Fuß zu ihrer Familie zurückkehrte, zog diese in ein verlassenes Haus und lebte in Armut. Sie hätten jedoch eine deutsche Familie kennengelernt, die ihr letztes Brot mit ihnen geteilt habe. Die Kinder der deutschen Familie hätten Mietek das Angeln beigebracht und seien mit ihm in die Schule gegangen. Diese Nachbarn beschreibt er als seine zweite Familie. Er stehe immer noch mit ihnen in Kontakt.

Mit 18 Jahren sei er der Blaskapelle beigetreten und habe dort Trompete spielen gelernt. Er habe später 30 Jahre lang im Marineorchester gespielt und danach 16 Jahre beim Zirkus. Mit verschiedenen Zirkusgruppen sei er durch ganz Europa gereist. Mit 24 Jahren habe Mietek seine erste Frau geheiratet. Sie bekamen eine Tochter. Seine jetzige Lebensgefährtin Heidi, eine Frau aus Berlin, habe er durch den Zirkus kennengelernt.

Lange Zeit verdrängt

Auf die Frage der Moderatorinnen, Naemi Kux und Alicia Schneider aus der Q3, was ihm im Laufe seines Lebens Kraft gegeben habe, erklärte Mietek: Erst mit 60 Jahren habe er angefangen, über seine Zeit im Arbeitslager nachzudenken. Seine Mutter habe immer gewollt, dass ihre Kinder in die Zukunft blicken, und verboten, über die Erfahrungen im KZ zu sprechen, sodass Mietek es lange verdrängt habe. »Nie wieder das erleben, was ich durchgemacht habe«, sagte er über den Krieg in der Ukraine.

Mietek spielte mehrere Stücke auf seiner Trompete, unter anderem die Melodie »Tränen aus Potulitz«, die er für verstorbene Kinder aus der NS-Zeit komponiert hat. Außerdem wurden alte Briefe und Fotos aus seiner Kindheit gezeigt. Der Leitsatz seiner Berichte, die er seit 2001 hält, ist: »Wir rufen nicht nach Rache, wir rufen nach Erinnerung.«

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