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Wo die Mauern Ohren haben

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Von: Gerhard Kollmer

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Schriftstellerin Eva Menasse hat den »Fall Rechnitz« aufwendig recherchiert. © Gerhard Kollmer

Friedberg (gk). »In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen; sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt.«

Mit diesem Satz beginnt der im vergangenen Jahr erschienene und bereits in neunter Auflage vorliegende dickleibige Roman »Dunkelblum« der 1970 in Wien geborenen und seit fast 20 Jahren in Berlin lebenden, mehrfach ausgezeichneten Schriftstellerin Eva Me-nasse. Er weckt die Neugier, zieht den Leser unaufdringlich hinein in ein Geschehen, das auf einer historischen Begebenheit beruht. Im burgenländischen Ort Rechnitz nahe der ungarischen Grenze ereignet sich im März 1945 ein Massaker, dem über 100 jüdische Zwangsarbeiter zum Opfer fallen.

Im Unterschied zu anderen Orten, in denen ähnliche Gewalttaten stattfanden, wird in Rechnitz das Massengrab, in dem die Opfer verscharrt wurden, bis heute gesucht.

Es sei ihr, so Eva Menasse, nicht darum gegangen, eine Art »investigativen« Tatsachenroman zu schreiben, obwohl sie den »Fall Rechnitz« aufwendig recherchiert habe.

Autorin möchte nicht belehren

Statt den kollektiven Massenmord zu schildern, macht die Autorin die Nachwirkungen einer furchtbaren Vergangenheit, die nicht vergeht, zum Thema ihres in den fiktiven Ort »Dunkelblum« verlegten, im Sommer 1989 spielenden Romans. Verschweigen, verdrängen, verhindern, beschönigen statt Mut zur Wahrheit, die allein frei macht: Dieses komplexe sozialpsychologische Geschehen, dieses »Gespinst« wird auf sprachkünstlerisch meisterhafte Weise vor dem geistigen Auge des Lesers beziehungsweise der Leserin entfaltet, gewoben. »Dunkelblum« ist, auch wenn die Autorin jegliche moralische Belehrungsabsicht von sich weist, ein »Mikrokosmos«.

Was hier geschah und - in einer Art unbewusstem »Wiederholungszwang« - immer noch geschieht, kann überall stattfinden und hat es unzählige Male getan. Vostra res agitur.

Eva Menasses kommentierter einstündiger Lesung im Rahmen von »Friedberg läßt lesen« am vergangenen Freitagabend im bis auf den letzten Platz besetzten Bibliothekszentrum Klosterbau lauschten die HörerInnen vom ersten Augenblick an mit gespannter Aufmerksamkeit.

Zum Teil Ungeheuerliches wird unaufgeregt, mit leisem ironischen Unterton, metaphernreich erzählt, wie ein tableau vivant ausgebreitet. Dabei wechseln die Zeitebenen häufig. Sommer 1989: Scharen von DDR-Bürgern warten auf der ungarischen Grenzseite auf ihre Weiterreise in den Westen. Teils von weither anereiste Angehörige der ermordeten Juden erhoffen Aufklärung über deren letzte »Ruhestätte«.

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