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Gottfried Lehr: »Könnten schon viel weiter sein«

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Gewässerökologe Gottfried Lehr (vorn) veranschaulicht die Renaturierung der Nidder in Selters an zwei Stellen. © Myriam Lenz

Wie lassen sich Gewässer schützen, wie lässt sich Trinkwasser sichern? Das erfuhren Besucher während eines Vortrags am Nabu-Haus in Selters. Gewässerökologe Gottfried Lehr sprach Tacheles.

Gottfried Lehr steht an der Nidder. Ein paar dunkle Wolken am Himmel könnten das Thema einleiten. Sie versprechen Regen. Der bleibt aber aus. Ausbleibende Niederschläge und sinkende Grundwasserstände bis hin zum Quellensterben sind in diesen Tagen in Oberhessen brandaktuell. Etwa 30 Personen haben sich auf Einladung der Wetterauer Grünen in den Salzwiesen in Selters versammelt, um dem Gewässerökologen Lehr aus Bad Vilbel zuzuhören. »Der Klimawandel galoppiert, wir kommen mit unseren Maßnahmen aber nur in der Geschwindigkeit einer Schnecke voran«, redet er Klartext. Hier am Nabu-Haus an den Salzwiesen zeigt er zwei Stellen, wo die einst begradigte Nidder wieder einen nahezu natürlichen Verlauf zeigt.

Die Natur holt sich ihr Terrain zurück

Es sind je nach Standort verschiedene Herangehensweisen der Renaturierung. Der eine Abschnitt in Richtung Neumühle war weniger aufwendig. Dort kamen die Befestigungen heraus und wurden Geschiebedepots angelegt. Der zweite Abschnitt auf Höhe d es Hauses an den Salzwiesen war mit stärkeren Eingriffen verbunden, weil dort eine neue Flussschleife angelegt wurde. Gut zu sehen: Die Natur holt sich Stück für Stück wieder zurück.

Die Wetterauer Grünen wollen sich auf allen politischen Ebenen für den natürlichen Wasserhaushalt engagieren. Grünen-Landtagskandidat und Kommunalpolitiker Marcus Stadler hat zu der Exkursion auch Britta Haßelmann, die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Deutschen Bundestag, und Dietmar Wäß von den Ortenberger Grünen eingeladen, um gemeinsam über die positiven Auswirkungen von Renaturierungen auf die Biodiversität, den Wasserhaushalt und die Erholungsfunktion für den Menschen und natürlich die notwendigen Schritte zu sprechen.

In den Auen auf Höhe des Naturschutzgebietes Salzwiesen und Weinberg von Selters fließt die Nidder gemächlich. Das Gefälle ist flach. Durch Begradigungen war ab der Neumühle kein Kies mehr in dem Fluss. »Hier besteht ein Geschiebedefizit«, erklärt Lehr. Geschiebe sind Feststoffe von kleinkörnigem Sand bis grobem Kies. Kies stabilisiert die Flusssohle und ist eine wichtige Lebensgrundlage für die artenreiche Flora und Fauna. Sie bietet zum Beispiel Fischen eine Möglichkeit zu laichen, Insekten, ihre Larven abzulegen und Mikroorganismen ein Milieu. Durch dieses immer noch bestehende Geschiebedefizit grub sich die Nidder bis zu zwei Meter in die Tiefe. Der Eisvogel mag die tiefen Stellen und steile Böschungen, in denen er gerne brütet. Gefragt ist jedoch ein Mosaik aus tiefen und flachen Böschungen. Hier musste nachgeholfen werden. Über eine angelegte Rampe wird immer wieder Kies in die Nidder gefahren.

»Wir müssen eine komplexe Fülle an Dingen berücksichtigen, um den Fluss wieder in den Griff zu bekommen und an den richtigen Stellen die passenden Maßnahmen zu ergreifen. Einen natürlichen Fluss künstlich nachzubauen, funktioniert nicht«, sagt Lehr.

»Die Not ist groß, die Gewässer werden immer wärmer. Wir gucken sehenden Auges zu, wie die Systeme umkippen«, verdeutlicht Lehr. Hilfe zur Selbsthilfe sei das Motto. Weiden und Erlen wachsen, der Fluss bringt Sämlinge mit. Ein Gehölzsaum oder Galeriewald, der sich spalierartig entlang von Flüssen bildet, sei in der Lage, die stark angestiegenen Temperaturen im Wasser im Mittel um fünf Grad herunterzukühlen.

Nahe dem Haus an den Salzwiesen wurde eine neue Schleife in der Nidder gegraben, wo ein Hochwasser gesplittet wird. Die Flussdynamik der Nidder wurde wieder reaktiviert. Die Artenvielfalt sei gering, ändere sich aber gerade, berichtet der Gewässerökologe.

Die geschaffenen Flachzonen in der Nidder seien ein Kindergarten für Fische wie Barben oder Nasen. In fünf Jahren, davon geht er aus, ist die Nidder an dieser Stelle schön beschattet, das Ufer begrünt.

»Wir wissen alles über die Notwendigkeit, an den Gewässern etwas zu machen, kartieren seit 20 Jahren. Es gibt überhaupt keinen Grund, mit der Umsetzung noch zu warten. Doch wir stehen uns selbst im Weg, weil wir in der Brut- und Setzzeit nicht bauen dürfen. Wenn wir alle Auflagen berücksichtigen, können wir nur zehn Tage im Jahr bauen.« Die Ersatzbaustoffverordnung (EBV), die am 1. August in Kraft tritt und die Verwertung von mineralischen Abfällen regelt, bezeichnet Lehr als »weltfremd«.

Während die Behörden im Wetteraukreis gut und eng zusammenarbeiten und Genehmigungsverfahren zwischen sechs Wochen bis drei Monate dauern würden, benötigten die Regierungspräsidien aufgrund von Personalmangel für eine Genehmigung ein dreiviertel bis zu einem Jahr, berichtet Lehr. Das sei deutlich zu lange.

Sein Fazit: Für die Renaturierungen braucht es mehr Platz, schnellere Genehmigungsverfahren und bessere Instrumente, um die Leute ins Boot zu holen. Er mahnt: »Wir könnten schon viel weiter sein.«

In einem anschließenden Vortrag verdeutlicht Marcus Stadler Indikatoren aus der Region für den Klimawandel, wie zum Beispiel die massiven Temperaturabweichungen oder Niederschlagsentwicklungen von 1990 bis 2020 im Jahresmittel für Schotten.

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Gottfried Lehr © Myriam Lenz

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