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Hand in Hand für Nelly

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Anika Kipper zeigt, wie beschwerlich es ist, ihre Tochter Nelly auf die Duschbank zu setzen. © Georgia Lori

Nellys blaue Augen erzählen viele Geschichten. Geschichten vom kleinen Glück, von Enttäuschung und Hoffnung. Sprechen, laufen und greifen kann die 13-Jährige nicht. Sie leidet am Rett-Syndrom, einer tiefgreifenden neurologischen Störung der Entwicklung, die hauptsächlich bei Mädchen auftritt.

Zum Krankheitsbild gehören Schlaf- und Schluckstörungen sowie Epilepsie. Nelly leidet am Rett-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine in der frühen Kindheit beginnende und progressive Enzephalopathie, die durch eine Neumutation in den Keimzellen hervorgerufen wird. Die Eltern, Anika (46) und Georg Kipper (45), pflegen das Mädchen liebevoll. Doch immer wieder stoßen sie an ihre Grenzen.

Barrierefreie Badewanne

So ist nach notwendigen Operationen an Nellys Wirbelsäule das knapp fünf Quadratmeter große Badezimmer nicht mehr praktikabel. Eine barrierefreie Dusche müsste die Badewanne ersetzen. Doch den Umbau mit geschätzten Kosten von etwa 25 000 Euro können die Eltern nicht stemmen. Deshalb rufen sie mit Unterstützung des Vereins Hand-in-Hand für schwerst-und krebskranke Kinder mit Sitz in Altenstadt zu einer Spendenaktion auf. Bereits in der Vergangenheit leistete der Verein wertvolle Hilfe bei der Anschaffung eines Transportgurtes fürs Auto der Familie.

»Wir können uns aus Kostengründen keinen Handwerker leisten. Würde ich den Umbau in Eigenleistung samstags selbst vornehmen, hätten wir ein halbes Jahr kein Bad«, sagt Georg Kipper. Eine Fachfirma sei gefragt. Funktional und gut ausgeführt soll das neue Bad sein und ein bisschen Wohlfühlatmosphäre bei der Auswahl der Kacheln in Nellys Lieblingsfarben Grün und Orange vermitteln.

Die Familie lebt in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen in Nidda. »Wir haben das Haus 2018 gekauft. Im Bad gibt es nur eine Badewanne, in die meine Frau und ich Nelly zum Duschen gemeinsam hinein- und wieder herausheben müssen«, erklärt Georg Kipper die Situation. Vor der Operation konnte Nelly in der Badewanne stehen und sich zum Duschen an der Wand abstützen. Ein Elternteil konnte sie alleine aus der Wanne heben. Heute wiegt das Mädchen 42 Kilo. Zudem hat Nelly nach einer OP die Fähigkeit verloren, frei zu stehen. Sie sitzt auf einer Duschbank, die sowohl vor als auch in der Wanne steht. »Dementsprechend geflutet ist das Bad, das im Anschluss geputzt werden muss«, sagt die Mutter und blickt auf die bunt lackierten Fingernägel ihrer Tochter, die etwas Farbe in den tristen Alltag bringen.

Nelly, erzählt ihre Mutter, eine gelernte Zweiradmechanikerin, kam am 16. April 2010 auf die Welt. Das ruhige, zufriedene Kind, ist nach eineinhalb Jahren auffällig geworden. Nelly krabbelte nicht noch wollte sie laufen. Sie entwickelte Handstereotypien. Die Eltern nahmen dies zunächst als Entwicklungsstörung wahr. 15 Monate nach der Geburt begannen stundenlange Schrei-Episoden, die mit Erbrechen verbunden waren. Im Sozialpädiatrischem Zentrum (SPZ) in Gießen wurde nach einem Gentest und zahlreichen Untersuchungen das Rett-Syndrom diagnostiziert.

Plötzlich war alles anders

»Träume und Vorstellungen sind zerplatzt. Das Leben war von jetzt auf gleich anders«, sagen die Eltern. Als Familie waren sie plötzlich abhängig von anderen Leuten. Termine für Frühförderung, Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie gehörten zum Alltag. Auch Reittherapie kam in Betracht. Ein Integrationsplatz für den Kindergarten musste beantragt werden. »Da wir beide zu diesem Zeitpunkt Vollzeit arbeiteten, waren die Therapietermine zeitlich ein Problem«, so die Mutter.

Belastend kam der Verlust bereits vorhandener Fähigkeiten hinzu. Nelly konnte in drei Wort-Sätzen sprechen und bis zu ihrer Wirbelsäulen-OP laufen. Wegen der Wirbelsäulenverkrümmung trug sie fast neun Jahre täglich ein Korsett. Doch die Skoliose griff auf innere Organe wie das Herz über, weshalb die Wirbelsäule vom fünften Lenden- bis zum zweiten Brustwirbel versteift wurde. Die Halswirbelsäule entwickelte eine Kyphose. Das Gleichgewicht verlagerte sich nach vorne. Das Stehen und Laufen klappte nicht mehr. Krankengymnastik, eine selbst finanzierte kinesiologische Therapie und Ergotherapie sowie ein Stehgerät in der Schule sollen dem entgegenwirken. Inzwischen besucht Nelly die achte Klasse der Hammerwaldschule, als einziges Kind mit Rett-Syndrom.

Ihre Eltern haben sich beruflich an die Situation angepasst. Anika Kipper arbeitet heute drei Tage in der Woche als Medizinprodukteberaterin in einem Sanitätshaus im Kinder-Rehabereich, Georg Kipper, gelernter Schreinermeister, ist in Karben beschäftigt. Wenn sie arbeiten, gestalten zwei Betreuerinnen im Wechsel Nellys Alltag.

Fröhlich und kontaktfreudig

Sie unternehmen Spaziergänge mit dem Mädchen, lesen vor und sehen sich mit dem Teenager Tinder und Snapchat an oder hören Musik. Ein ehrenamtlicher Ersatz-Opa wurde über den Kinder- und Jugendhospizdienst gefunden. Nelly ist ein fröhliches und kontaktfreudiges Mädchen. Zudem liebt sie laute und rockige Musik und besucht gerne Konzerte wie von The Boss Hoss oder Santiano. Nelly mag es auch, auf Mittelalterfesten zu sein. Vor fünf Jahren reiste die Familie in den Herbstferien nach Schottland. Auch Kanufahrten auf der Lahn waren machbar. Doch trotz aller Fürsorge hadert Nelly zeitweise mit ihrem Schicksal. »Wenn der Tag erlebnisreich war und sie viel Kontakt mit Kindern hatte, die keine Behinderung haben, wirkt sich das oft so aus, dass Nelly traurig wird«, sagt Georg Kipper.

Und dennoch: Das schwere Schicksal ihres geliebten Kindes hat die Familie zusammengeschweißt. Freundschaften werden mehr geschätzt und Nelly hat ihren Eltern gezeigt, dass eine gewisse Gelassenheit notwendig ist, um viele Dinge nach ihrem ganz eigenen Tempo umzusetzen.

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