»Ich habe ein Doppelleben geführt«: Kim Bui stellt ihr Buch »45 Sekunden« vor

Kim Bui (34) ist eine der erfolgreichsten deutschen- Turnerinnen der vergangenen Jahrzehnte. Ihr aktuelles Buch »45 Sekunden« schlägt in den Medien hohe Wellen. Im Interview spricht sie über ihre außergewöhnliche Laufbahn.
Warum sind Sie mit Ihrer bewegten und bewegenden Geschichte erst nach Rückzug aus dem Leistungssport an die Öffentlichkeit getreten?
In den vergangenen Jahren kam mir nie der Gedanke, ich wäre auch überhaupt nicht da-zu bereit gewesen. Allein schon aus der Unsicherheit, wie mein Umfeld das aufnehmen, mit welchen Konsequenzen ich konfrontiert würde. Klar, da war auch der Gedanke, dass ich möglicherweise meine Laufbahn aufs Spiel set-zen könnte.
Sie beschreiben einerseits, Turnen sei für Sie schönste Sportart der Welt …
Das ist es noch immer, allein wegen der ungeheuren Komplexität dieses Sports.
… andererseits beschreiben Sie die unglaublichen Qualen und den Verzicht, den es bedarf, um in der Weltspitze mitmischen zu können. Das klingt ein wenig wie eine Hassliebe.
Mag sein. An einer Stelle schreibe ich, es ist die Rückseite der Erfolgsmedaille, die das Publikum nicht so gerne sieht, von der es in der Regel auch nicht viel wissen will. Bei-spielsweise, dass ein großer Teil meiner Kindheit und Jugend in der Turnhalle stattge-funden hat. Bei fünf Stunden Training am Tag waren Klas-senfahrten und Partys eben nicht drin. Entscheidend war - und das ist mit meinem Rück-tritt gewissermaßen der Aus-bruch aus diesem System ge-wesen - dass ich funktioniert habe.
Was muss man sich darunter vorstellen?
Mein Leben war durchgetaktet, ich hatte nicht viel zu ent-scheiden, Widerworte gab es nicht. Ich kam morgens in die Turnhalle, sah den Plan mit dem Trainingspensum und nur vom Anschauen kamen mir oft die Tränen, da ich wusste, das schaffe ich nicht. Wenn ich mal einen schlechten Tag hatte und die vorgege-ben Übungen nicht hinhauten, sagte die Trainerin: Wir haben Zeit, du versuchst das so lan-ge, bis du die Übung fehlerfrei turnst. Tränen, Schmerzen - zählen nicht. Zu viele Schmer-zen, wirfst du eben noch ein Ibu ein.
Sie haben neben anderen Verletzungen zwei Kreuzbandrisse erlitten, relativ nah zu den Olympischen Spielen. Am Ende haben Sie die Teilnahme dennoch geschafft.
Wenn ich mich heute daran erinnere - unglaublich und verrückt. Aber ich hatte eben ein Ziel vor Augen: Die Teil-nahme an den Spielen, für jeden Sportler das Größte. Dafür hätte ich alles getan. Außer-dem wollte ich es den Trai-nern zeigen, die hinter mei-nem Rücken raunten: Die schafft das nicht mehr.
Sie haben vieles für Ihre Laufbahn getan und in Kauf genommen, was für Außenstehende nicht einfach zu verstehen ist. Etwa eine Bulimie. Wie kam es zur Essstörung?
Früher wurde man regelmäßig gewogen. Und irgendwann fiel mal der Satz einer Trainerin, ich solle doch etwas auf mein Gewicht achten, dann fielen mir die Übungen auch leich-ter. Da war ich 15 oder 16 Jah-re. Und in der Pubertät verän-dert sich doch der Körper so oder so. Jedenfalls nahm ich mir diesen Satz zu Herzen. Wenn mir eine Übung schwer-fiel, ging mir sofort der Satz durch den Kopf: Ich bin zu dick. Ich liebe aber nun mal das Essen. Also aß ich weiter und erbrach mich, um das Es-sen wieder loszuwerden.
Man kann sich vorstellen, dass Ihre Gefühle in dieser Zeit Achterbahn gefahren sind.
Das ist gelinde ausgedrückt. Ich führte gewissermaßen ein Doppelleben. Weiter Schule und Training, was auch wun-derbar klappte, andererseits immer einen Blick dorthin, wo ich mich - zweimal, dreimal täglich - würde übergeben können, was in dem Moment, in dem ich es tat, selbst immer ein befreiendes Gefühl war. Natürlich wusste ich, dass das nicht richtig ist. Es war eine Mischung aus Ekel und Scham.
Letztlich hat Sie eine Trainerin aus dieser Situation gerettet.
Genau. Sie bekam das mit, stellte mich und sagte: Ich weiß, was du machst, und will, dass du dir professionelle Hilfe suchst. Das habe ich dann auch getan, mit 17 Jahren. Es hat dann rund vier Jahre gedauert, bis ich von der Bulimie befreit war.
Ihr Buch fällt durch sein Facettenreichtum auf: Sexismus im Sport, von einem verkrusteten System, und Sie fordern Respekt für Leistung an sich.
Interessant ist die Thematik, die man unter dem Begriff »Identität« zusammenfassen würde. Darum komme ich bei einer ehrlichen Betrachtung meines Lebens nicht herum. Meine Eltern kamen als Bootsflüchtlinge aus Vietnam und Laos nach Deutschland. Ich ziehe heute noch den Hut vor ihrer Leistung und bin sehr dankbar, was sie für meinen Bruder und mich aufgebaut haben. Aber die Erziehung war geprägt durch die Anpassung an das deutsche Leben und den Anspruch, die denkbar beste schulische Qualifikation zu erreichen.
Können Sie das erläutern?
Ein geflügeltes Wort meines Vaters, wenn ich in einer Klassenarbeit eine 2 erreicht hatte: Eine 1 wäre besser gewesen. Disziplin, nicht unangenehm auffallen, keine Gefühle in der Öffentlichkeit zeigen, das war wichtig.
Das klingt nach einer strengen Kindheit und Jugend.
Schon. Aber ich bin mit meinen Eltern im Reinen, sie sind natürlich, wie wir alle, auch nur Kinder ihrer Zeit und der Gesellschaft, in der sie groß geworden sind. Aber da trafen sich eben zwei Lebensbereiche - Elternhaus und Sport - die sich durch eine Forderung verbanden: jener nach Perfektion. Und dies ist sicherlich ein Grund dafür, dass ich einige Probleme mit mir herumgetra-gen habe.
Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es Perfektion im Sport nicht gibt. Aber Ihren Abgang im vergangenen August bei den Europameisterschaften bezeichnen Sie als perfekt.
Es war tatsächlich der perfekte Schlusspunkt. Noch mal eine Bronzemedaille mit der Mannschaft und dann dieses fantastische Publikum, das mich so richtig abgefeiert hat. Da empfand ich zum ersten Mal so etwas wie eine ehrliche Wertschätzung. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.