»Jede Begegnung bereichert mich«

»Die tollen Momente überwiegen«, sagt Elisabeth Schick über ihre Arbeit. Seit 2016 ist die Sozialarbeiterin für die Flüchtlingsbetreuung in Gedern zuständig. Eine Aufgabe, die voller Herausforderungen und Unwägbarkeiten steckt.
Die Lage im Wetteraukreis mit seinen 25 Städten und Gemeinden ist angespannt. Deutlich über 5000 Geflüchteten hat der Landkreis in den vergangenen zwölf Monaten aufgenommen. Es fehlt nicht nur an Unterkünften und Wohnraum, auch der Rückhalt in der Bevölkerung bröckelt. Dafür mehren sich die Sorgen: Ist das überhaupt zu schaffen? Die Stadt Gedern hat nach der sogenannten »Flüchtlingskrise« 2015 die Betreuung von Geflüchteten selbst in die Hand genommen und dafür die Sozialarbeiterin Elisabeth Schick eingestellt, die diese Aufgabe inzwischen im sechsten Jahr geräuscharm managt. Eine ihrer Stärken ist Gelassenheit. Aber manchmal muss auch sie darum ringen.
Frau Schick, bevor Sie für die Stadt Gedern tätig wurden, haben Sie beim Jugendamt der Stadt Hanau gearbeitet. Was reizte Sie an der neuen Aufgabe?
Hm, da gab es einige Punkte. Gerne wollte ich näher am Wohnort arbeiten, 2013 war ich nach Wenings gezogen. Auch hatte ich die Hoffnung, dass die Uhren auf dem Land etwas langsamer gehen. Allerdings war wohl der ausschlaggebende Grund, dass ich Geflüchtete beim Ankommen in Deutschland unterstützen wollte. Die Arbeit beim Jugendamt und das Pendeln waren so zeitraubend, dass ich keine Zeit hatte für ehrenamtliches Engagement. Als dann die Stellenausschreibung der Stadt Gedern kam, musste ich nicht lange nachdenken.
Damals war nicht absehbar, dass zu den vielen Kriegs- und Krisenherden in der Welt auch ein Krieg in Europa Menschen in die Flucht treiben würde. Haben Sie den Wechsel je bereut?
Nein, bereut habe ich die Entscheidung nicht. Allerdings war das Jahr 2022 schon sehr anspruchsvoll. Im März kamen die ersten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, jetzt im Herbst viel mehr Geflüchtete aus aller Welt. Allerdings ist das Bewältigen von Krisen nichts Neues für mich. Mit den guten Strukturen, die wir in Gedern aufgebaut haben, waren beide Ereignisse zu managen.
Menschen, die sich ehrenamtlich für Geflüchtete engagieren, erleben oft, dass ihr Tun infrage gestellt wird, auch in der Familie oder im Freundeskreis. Machen Sie ähnliche Erfahrungen? Mussten Sie sich je rechtfertigen?
Anfeindungen habe ich keine erlebt. Meine Freunde und Bekannten kennen mich gut und verstehen, was ich mache. Mit dem Krieg in der Ukraine und den Geflüchteten aus diesem Kriegsgebiet hat sich die öffentliche Wahrnehmung meiner Arbeit verändert. Jeder konnte jeden Tag in den Nachrichten sehen, wie schrecklich die Situation dort ist. Und das in Europa. Die Hilfsbereitschaft war sehr groß. Wir haben viele Wohnungsangebote bekommen. Die Bereitschaft, bei der Unterbringung zu helfen, ist immens. Mehrere Wohnungen und Häuser konnten wir direkt anmieten, noch mehr Gederner stellten ihren Wohnraum gegen Nebenkostenpauschale zur Verfügung.
Sie sind aktuell zuständig für 110 Frauen, Männer und Kinder. Ist das überhaupt zu schaffen?
Die absolute Zahl der Personen ist nicht so das Problem. Schwierig wird es, wenn viele Menschen gleichzeitig neu kommen. Das war so, als wir am 11. März die ersten 24 Personen aus der Ukraine bekommen haben, und das ist auch jetzt so. Mit der Belegung der neuen Unterkunft des Wetteraukreises in der ehemaligen Schlossbergklinik wurde am 22. November begonnen. Von den 53 Plätzen sind aktuell gut 40 belegt. Jede Person, die neu kommt, muss angemeldet werden, benötigt ein Bankkonto, die Kinder müssen in der Schule angemeldet werden, viele benötigen ärztliche Versorgung und alle haben viele, viele Fragen. Zum Glück habe ich mir in den vergangenen Jahren ein gutes Netzwerk aufbauen können, Absprachen machen so vieles leichter.
Sie werden bei Ihrer Arbeit immer wieder mit Schicksalen und vielen Ängsten konfrontiert. Wie schafft man es, sich abzugrenzen und kein Leid mit nach Hause zu nehmen?
Das ist Teil der professionellen Haltung der Sozialarbeiterin. Ein wesentlicher Teil! Der Fokus meiner Arbeit liegt im Jetzt und bei der Bewältigung des Alltags. Manche Geflüchtete erzählen mir schlimme Geschichten über ihre Flucht. Da höre ich zu. Das ist aber eher die Ausnahme. Es gibt meist viel Drängenderes zu besprechen: Das Kind hat Probleme in der Schule, die Heizung in der Unterkunft ist ausgefallen, es gibt ein Angebot für einen Arbeitsplatz, wie geht das jetzt weiter. Viele Geflüchtete sind traumatisiert. Für die Bearbeitung der Traumata bin ich nicht die Richtige. Allerdings bin ich die Richtige, die traumatisierten Menschen dabei zu unterstützen, dass sie ihren Alltag bewältigen können.
Durch die Pandemie ist das Engagement des ehrenamtlichen Helferkreises mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Was bedeutet das für Ihr Tun?
Um die Geflüchteten aus der Ukraine hat sich neues ehrenamtliches Engagement gebildet. Das ist großartig. Wohnungsgeber und Nachbarn mit Sprachkompetenz sind sehr engagiert. Für die Geflüchteten aus aller Welt bedeutet es, dass ich für viele die einzige Ansprechpartnerin bin. Alle Fragen und Anliegen landen bei mir. Das ist okay, weil es mein Job ist. Besonders für die neuen Familien, die aus aller Welt kommen, wäre es schön, mehr Anschluss zu finden. Nicht so sehr problem- als erlebnisorientiert.
Zurzeit überlagern sich die Krisen. Zur Pandemie kommen der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und explodierende Lebenshaltungskosten. Welche Stimmung nehmen Sie in der Gesellschaft wahr?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Tatsächlich hat die Pandemie vieles verändert. Wir bewegen uns zunehmend in unseren eigenen Gesinnungsblasen. So geht es mir auch. Ich möchte mich in den Sozialen Medien nicht mit kruden Theorien und Haltungen auseinandersetzen und blende sie aus. Ich möchte mich nicht von meinem Optimismus abbringen lassen, dass wir eine starke Gesellschaft sind, die diese Krisen bewältigen kann. Allerdings begegnen mir jeden Tag Menschen, die Sorge haben, die Kosten des Lebens nicht bezahlen zu können. Es ist eine sehr schwierige Zeit.
Neben vielen menschlichen Tragödien, von denen Sie erfahren, gibt es sicher auch zuvesichtlich stimmende Begebenheiten. Erinnern Sie sich an eine besonders?
Ganz ehrlich? Die tollen Momente überwiegen in meiner Erinnerung. Am schönsten ist es, wenn wir zusammen lachen. Die Schwere der Situation löst sich für einen Moment in Luft auf. Jede Begegnung ist spannend. Ich bin neugierig auf die Menschen. Dabei ist es ganz egal, ob es sich um ein Brautpaar im Traugespräch, neu zugezogene Menschen, die viele Fragen haben, oder Geflüchtete aus Afghanistan, dem Iran, Syrien oder Somalia handelt. Jede Begegnung bereichert mich.
Haben Sie eigentlich mal gezählt, aus wie vielen Ländern Sie inzwischen Menschen kennengelernt haben?
Wenn ich alle Bereiche meiner Arbeit bei der Stadt Gedern betrachte, waren Menschen aus allen Kontinenten und sehr vielen Ländern der Erde in meinem Büro. Die Geflüchteten sind am Anfang ihrer Integration, die Einzubürgernden haben es geschafft. Diese Mischung stimmt mich sehr optimistisch.
Was nehmen Sie aus der Begegnung mit so vielen verschiedenen Kulturen und Schicksalen für Ihr eigenes Leben mit?
Ich muss nicht in ferne Länder reisen, die Welt ist meine tägliche Arbeit. Jeden Tag lerne ich, welches Privileg es ist, in Deutschland geboren zu sein, in Sicherheit zu leben, eine gute Schule zu haben, genug zu verdienen und gut leben zu können. Meine Familie ist hier. Ich muss mir keine Sorgen um sie machen.
Weil der Wohnungsmarkt leer gefegt ist, plant der Wetteraukreis nun im östlichen Kreisgebiet mit Zeltstädten für die Unterbringung von Geflüchteten. Dagegen regt sich Widerstand. Haben Sie Verständnis für die Leute in den Dörfern, die ihre Sorgen mit Unmut äußern?
Selbstverständlich habe ich Verständnis für die Ängste der Menschen. Bei den Entscheidungen in Gedern denken wir die Sorgen der Bevölkerung immer mit. Deshalb haben wir seit März große Anstrengungen unternommen, das Konzept zur Unterbringung von Geflüchteten in dezentralen kleinen Unterkünften fortzuführen. Das ging nur mit der Unterstützung der Bevölkerung. Die Zuweisungsquote betrifft jede Stadt und Gemeinde im Kreis. Die Herausforderungen für die kleinen Gemeinden sind immens. Leichtbauhallen sind die schlechteste Form der Unterbringung. Wenn alle in der Gemeinde zusammenstehen, müsste es möglich sein, bessere Unterbringungsmöglichkeiten zu finden. Besser für das Dorf, besser für die Nachbarn und besser für die Geflüchteten.
Aus Ihrer Erfahrung: Wie nimmt man Menschen, die mit Stammtischparolen um sich werfen und meinen, nun sei es aber mal gut mit dem Helfen, den Wind aus den Segeln?
Das ist gar nicht so einfach. Bei den meisten Menschen sprechen Angst und Sorge aus den Stammtisch-Sprüchen. Da helfen Erklärungen. Bei Menschen, die in ihren Überzeugungen verhärtet sind, weiß ich oft nicht weiter.
Nach dem Abitur hat Elisabeth Schick (53) zunächst eine Ausbildung zur Gärtnerin gemacht und sich danach in der Welt umgesehen. Später studierte sie Sozialarbeit und arbeitete in diesem Beruf zunächst beim Jugendamt der Stadt Hanau. Seit 2016 ist sie bei der Stadt Gedern angestellt. Neben der Betreuung von Flüchtlingen gehören auch Einbürgerungen und Eheschließungen zu ihrem Aufgabengebiet. Weil im neuen Jahr weitere geflüchtete Menschen erwartet werden, erhält sie demnächst Unterstützung.
Eine Teilzeitstelle wurde ausgeschrieben und inzwischen liegen Bewerbungen vor. Der Wetteraukreis, mit dem die Stadt Gedern als eine von fünf Kommunen im Landkreis einen Vertrag für die sozialarbeiterische Betreuung von Geflüchteten geschlossen hat, erstattet die Personalkosten, sodass keine Belastung des städtischen Haushalts entsteht. Außerdem sucht die Stadt Gedern nach wie vor Wohnraum für ukrainische Geflüchtete.
Elisabeth Schick ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt mit ihrem Ehemann in Wenings. Eines ihrer Hobbys ist der Chorgesang. Diesem fühlt sie sich auch verpflichtet als Vorsitzende des Niddertal-Sängerbundes.