Kind sein in Krisenzeiten

Erdbeben in der Türkei, Krieg in der Ukraine, Corona-Pandemie und Klimawandel - Krise folgt auf Krise folgt auf Krise. Das lässt die wenigsten kalt, vor allem nicht die Kinder. Burkhard Brosig, Leiter der Kinder- und Familienpsychosomatik am UKGM, gibt Einblick in die Psyche der Kleinsten und Tipps für die Eltern.
Nach dem Erdbeben gehen schreckliche Bilder aus der Türkei und Syrien um die Welt: Ein trauernder Vater, der die Hand seiner toten Tochter hält, oder der kleine Junge auf der Trage, dessen Augen leer in den Himmel blicken. Über Instagram erreichen die Fotos nicht nur Erwachsene, auch Jugendliche und Kinder werden mit dem Leid und Tod konfrontiert. Und das ist nicht das erste Extremereignis der vergangenen Jahre, das Ängste schüren kann. Der Krieg in der Ukraine, die Corona-Pandemie und auch der Klimawandel sind Herausforderungen für die junge Psyche. Professor Burkhard Brosig leitet die Kinder- und Familienpsychosomatik am Universitätsklinikum Gießen und Marburg und rät Eltern, den Kindern aus der gefühlten Hilflosigkeit heraus zu helfen.
Sicherheit und Ruhe ausstrahlen
»Diese Bilder sind in der Lage, jemanden aus der Bahn zu werfen«, sagt Brosig. Auch er habe im Internet bedrückende Fotos nach den Erdbeben in der Türkei und Syrien gesehen und ist sich sicher: Daran wird er sich noch lange erinnern. Wie Kinder auf die Wahrnehmung von so einer Krise reagieren, kommt dabei auch auf ihr Alter an. »Kleine Kinder spüren eher eine diffuse Bedrohung durch Unsicherheiten der Eltern.«
Das habe man zum Beispiel während der Corona-Pandemie beobachten können. Die Zahl der Kleinkinder unter sechs Jahren, die an Diabetes Typ I erkrankt waren, ist laut einer Studie der Justus-Liebig-Universität zeitweise um 34 Prozent angestiegen. Als ein Risikofaktor für die Krankheit gilt Stress, und Brosig ist sich sicher: Der Anstieg war eine Konsequenz der »basalen Verunsicherung der Gesellschaft« gewesen, die auf die Kinder gewirkt habe.
Kleinkinder seien Krisen und den damit einhergehenden Ängsten dabei noch viel wehrloser ausgesetzt als ältere Kinder. Brosig sagt: »Sie sind noch stärker darauf angewiesen, dass die Eltern Sicherheit und Ruhe ausstrahlen.« Je älter Kinder werden, desto besser können einige eine Krise verarbeiten. Andere können mit zunehmendem Alter jedoch auch in eine depressive Wahrnehmung der Welt verfallen. Das könne sich unter anderem in Zwangsgedanken oder Angststörungen bemerkbar machen. Nach Perioden des politischen Friedens seien in den vergangenen Jahren Sicherheit und Kontinuität ins Wanken geraten. Brosig sagt: »Ein sensibles Kind kann dabei an der eigenen Kultur verzweifeln.«
Aktivismus als Blitzableiter
Eltern rät Brosig zunächst einmal mit ihrem Nachwuchs über die jeweilige Krise zu sprechen. »Man muss dabei natürlich altersgerecht aufklären.« Aber es sei wichtig, den Kindern die Hintergründe zu erklären: Warum gibt es Krieg zwischen Russland und der Ukraine überhaupt? Darüber könne man mit Kindern, die bereits auf eine weiterführende Schule gehen, reden. Denn etwas rational nachvollziehen zu können, nimmt zum Teil den Schrecken. Auch wenn bisweilen, wie beim Erdbeben in der Türkei und Syrien, am Ende die Erkenntnis bleibt: »Manchmal kann niemand etwas dafür, wenn etwas Furchtbares geschieht.«
Und was ist, wenn die Kinder nicht von sich aus darüber reden wollen? Brosig meint, man solle den Kindern zunächst Zeit geben, dann aber doch das Thema ansprechen. Denn es besteht natürlich immer auch die Gefahr, dass die Kinder sonst über die sozialen Medien informiert werden. »Und die haben natürlich das Problem, dass die Informationen dort nicht kuratiert werden.«
Außer mit Kindern über die Krisen zu reden, hat Brosig noch einen weiteren Rat: Eltern können zu sozialem Engagement ermutigen. »Denn schlimm für die Kinder ist die gefühlte Hilflosigkeit.« Politischer Aktivismus kann laut Brosig also als eine Art Blitzableiter für die Psyche wirken. Auch radikales Engagement sei dabei etwas Konstruktives im Vergleich zu Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit.