»Kinder schlagen, das geht gar nicht« - ein Gespräch über die Rechte von Kindern

Über die Arbeit an der Basis, über häusliche Gewalt und Wege, Kinder zu schützen, darüber hat diese Zeitung mit Marianne Zimmer vom Schottener Ortsverband des Kinderschutzbundes gesprochen.
Schon lange fordert der Kinderschutzbund die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz. Bisher ist die Kinderrechtskonvention von der Bundesrepublik Deutschland lediglich ratifiziert worden. Die verfassungsrechtliche Verankerung steht - trotz vielfältiger politischer Diskussionen - noch aus. Die Aufnahme in das Grundgesetz ist aktuell wegen anderer gravierender Probleme wie dem Krieg in der Ukraine oder dem Klimawandel in den Hintergrund getreten. Über die Bedeutung der Kinderrechte hat diese Zeitung mit Marianne Zimmer, Vorsitzende des Schottener Ortsverbandes des Kinderschutzbundes, gesprochen.
Viele Konflikte, unter denen Kinder leiden, spielen sich im häuslichen Umfeld ab. Wie werden Sie auf solche Fälle aufmerksam?
Ich werde meist von Nachbarn oder Passanten aufmerksam gemacht. Wenn es in einer Wohnung lauter wird, dringen unüberhörbare Geräusche auch schnell nach draußen. Wenn das wiederholt vorkommt, bin ich als Vertreterin des Kinderschutzbundes erste Ansprechpartnerin und weniger das eher anonyme und weit entfernte Jugendamt in Lauterbach. Der direkte Kontakt zu mir ist viel niederschwelliger als gleich die Behörde zu rufen.
Wie gehen Sie dann vor? Was können Sie veranlassen?
Ich versuche, Kontakt aufzunehmen und mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Ich gehe zu den Familien hin, manchmal werde ich aber nicht in die Wohnung gelassen. Gespräche finden auch an der Wohnungstür statt. Wenn die Gesprächsversuche keinen Erfolg zeigen, schalte ich das Jugendamt ein.
Wenn Kinder in Familien zu sehr unter Druck gesetzt werden und darunter leiden, sind dafür bestimmte Strukturen ursächlich. Welche sind das?
Probleme kommen bei Alleinerziehenden häufiger vor. Meist sind es Frauen, die die Verantwortung haben. In manchen Fällen sind auch die Väter nicht bekannt. Schwierigkeiten gibt es besonders, wenn die vorhandenen finanziellen Mittel knapp bemessen sind. Es ist nicht förderlich, wenn man ständig einem Kind sagen muss, dass etwas nicht geht. Leider ist auch zu beobachten, dass bei betroffenen Eltern eigene, ähnlich gelagerte Erlebnisse in der Kindheit zu einem sehr autoritären Verhalten gegenüber ihren Kindern führen können.
Sie sind wöchentlich mit einer Sprechstunde in der Gesamtschule präsent. Hat sich das bewährt?
Auf jeden Fall. Häufig kommen Lehrkräfte auf mich zu und suchen das vertrauliche Gespräch, wenn Jugendliche häusliche Probleme haben, die sich im Schulalltag bemerkbar machen. Wir suchen dann gemeinsam nach Wegen, eine Besserung herbeizuführen. Meist spreche ich dann mit den Schülerinnen oder Schülern in der Schule oder lade sie zum Gespräch ein, das auch im Büro unseres Kinderschutzbund-Ortsverbandes im Haus M4 stattfinden kann. Die Eltern dürfen in der Regel davon nichts wissen, wie mir die Jugendlichen mitteilen. Sie befürchten dann erhöhten Druck zu Hause.
Was macht die häusliche Situation für Kinder und Jugendliche besonders schwierig?
Oftmals haben die Eltern keinen Draht mehr zueinander. Es gibt kein Miteinander, der Alltag ist stark von Konflikten geprägt. Das fängt manchmal schon an, wenn die Kinder noch im Babyalter sind. Dann beginnt eine Leidenszeit für die Kinder. Hier müssten sich die Eltern zusammenreißen, es geht doch um ihr Kind. Manchmal ist es hilfreich, wenn Jugendliche das häusliche Umfeld verlassen. Das kann für eine bestimmte Zeit sein. Dafür bietet die Familienbezogene Jugendhilfe im Sozialraum (FaJuSo) in Schotten eine wichtige Unterstützung an.
Sie haben sehr vielfältige Einblicke in den Alltag von Familien. Welche Beobachtungen machen Sie? Was führt dazu, dass Kinder zu Hause leiden?
Von großer Bedeutung für ein gedeihliches Aufwachsen ist ein gewaltfreies Umfeld. Gewalt erdulden müssen, bedeutet nicht nur, Schläge zu erhalten, sondern auch psychische Gewalt. So kann zum Beispiel die Forderung der Eltern nach immer besseren Noten eine Form von psychischer Gewalt sein. Sie erzeugt einen permanenten Druck, der langfristig Schäden für die Kinder bedeutet. Warum ist denn die Note »Gut« nicht in Ordnung? Warum muss es unbedingt ein »Sehr gut« sein? Mancher Elternwunsch ist purer Stress für die Kinder.
Welche besonderen Rahmenbedingungen sind im eher überschaubaren Umfeld von Schotten zu berücksichtigen? Gibt es Unterschiede zu größeren Städten?
Es ist wichtig darauf zu achten, dass die Anonymität von Kindern und Jugendlichen sowie der Familien auf jeden Fall gewahrt bleibt, um die Betroffenen mit ihren Problemen nicht bloß zu stellen. Das ist nicht immer einfach und verlangt bestimmte Regeln. Andererseits treffe ich nicht selten Jugendliche, mit denen ich im Gespräch bin, in der Stadt. Das sind für mich schöne Momente meiner Arbeit, wenn ich dann sehe, dass sie sich freuen, und ich von ihnen angenommen werde.
In der jüngeren Vergangenheit hat die Zahl der geflüchteten Menschen wieder zugenommen. Es ist nicht abzusehen, dass es in naher Zukunft eine grundlegende Veränderung der Situation geben wird. Wie macht sich das in der Arbeit der Kinderschutzbundgruppe bemerkbar?
Zum einen merken wir, dass bei dieser Personengruppe das Geld knapp ist. Zusammen mit dem Tafelverein, mit dem wir eng vernetzt sind, unterstützen wir viele Familien über den Tafelladen beziehungsweise die Ausgabestelle. Andererseits müssen wir manchmal die Menschen, die zu uns kommen, auch darauf aufmerksam machen, dass in Deutschland bestimmte Regeln gelten, besonders auch im Umgang mit Kindern. Ein Kind zum Beispiel schlagen, das geht gar nicht. Das müssen wir, sollte es trotzdem passieren, in aller Deutlichkeit klarmachen.
Zu den von den Vereinten Nationen definierten Kinderrechten gehört auch der Anspruch auf Förderung. Welche Aktivitäten bietet Ihre Gruppe in diesem Bereich an?
Neben unserem Engagement in der Grundschule mit der Hausaufgabenbetreuung und der Leseförderung beteiligen wir uns bei verschiedenen Veranstaltungen mit eigenen Angeboten, so zum Beispiel an der Veranstaltung »BiP - Buntes im Park«. Sehr beliebt ist unser Hoherodskopftag, den wir jährlich in den Sommerferien organisieren. Dieses Jahr ist er wegen des schlechten Wetters auf den Freitag dieser Woche verschoben. Auch finanziell können wir Hilfe leisten, wo es nötig ist. Dank zahlreicher großer und kleiner Spenden von Privatpersonen, Vereinen, Institutionen oder Firmen können wir bedürftige Familien unterstützen, sei es in der Schule oder in anderen Bereichen.
Die Bundesregierung hat jetzt das neue Gesetz zur Kindergrundsicherung beschlossen. Dadurch sollen 2.4 Milliarden Euro bedürftigen Kindern zur Verfügung stehen. Außerdem, so ist die Planung, erhalten Berechtigte automatisch das Geld und müssen die Unterstützung nicht beantragen. Ist das eine konkrete Verbesserung für viele Familien?
Wenn das Gesetz in der angekündigten Form kommt, würde das die Abläufe bei den Beantragungen von Unterstützungsleistungen vereinfachen. Zurzeit herrscht ein regelrechter Ämterwirrwarr. Ich betreue eine Familie mit vier Kindern. Für jedes Kind muss jeweils ein Antrag gestellt werden. Beim Jugendamt für die Übernahme von nachmittäglichen Betreuungskosten nach dem Unterricht. Dabei müssen auch Verdienstangaben gemacht werden. Das sind allein vier oder fünf Formularblätter, die ausgefüllt werden müssen, was nicht ganz einfach zu handhaben ist. Dazu kommt für das Mittagessen ein erforderlicher Antrag an die Kommunale Vermittlungsagentur (KVA). Voraussetzung, um Betreuungs- und Essensgeld zu erhalten, ist wiederum ein Wohngeldbescheid. Wohngeld muss natürlich, wie auch das Bürgergeld, gesondert beantragt werden. Das ist manchmal ein ziemlicher Hickhack. Daher würde das neue Gesetz vieles vereinfachen. Die Frage ist allerdings, wie die geplanten Ankündigungen umgesetzt werden können.
Bekommen die Familien, sollte die Umsetzung funktionieren, dann letztlich mehr Geld?
Das glaube ich nicht. Wenn man eine Unterstützung nicht mehr selbst beantragen muss, sondern Gelder automatisch zugeteilt werden, wird sich auch der Empfängerkreis erhöhen. Familien, die bisher nichts bekommen haben, erhalten ebenfalls eine finanzielle Zuwendung. Ob das Geld dann für alle reicht, darf bezweifelt werden. Und ein großer Teil des vorgesehenen Etats wird für den erhöhten Aufwand in die Verwaltung fließen und nicht bei denen ankommen, die es brauchen.
Seit 2002 leitet Marianne Zimmer den Schottener Ortsverband des Kinderschutzbundes. Unter ihrer Regie hat die Gruppe viele Angebote für Kinder entwickelt, insbesondere in enger Zusammenarbeit mit den Schottener Schulen. Der Ortsverband betreut 35 Familien in Schotten und kümmert sich um etwa 100 Kinder und Jugendliche. Die Eltern von Neugeborenen erhalten ein Willkommenspaket. Hausaufgabenbetreuung und Leseförderung in der Grundschule sind weitere Angebote. Jährlich zu Beginn des neuen Schuljahres weisen die Aktiven im Zuge der Aktion »Sicherer Schulweg« mit der Polizei auf besondere Gefahren und das sichere Verhalten hin. In der Gesamtschule hält Marianne Zimmer wöchentlich eine Sprechstunde für Schüler, Lehrer und Eltern ab. Für ihre großes ehrenamtliches Engagement hat sie 2019 das Bundesverdienstkreuz erhalten. sw
Anlässlich des Weltkindertages am 20. September findet am Vortag in Lauterbach eine Veranstaltung zum Thema »Kinderrechte weltweit und in der Praxis vor Ort« statt. Von 15.30 bis 18 Uhr steht in der Adolf-Spieß-Halle ein Vortrag von Prof. Dr. Philipp B. Donath (Frankfurt) über die Rechtskraft der Kinderrechte in den Kommunen im Mittelpunkt. Die UN-Kinderrechtskonvention wurde von der Bundesrepublik ratifiziert. Hessen hat sie 2018 in die Landesverfassung aufgenommen. In Artikel 4, Absatz 2 der Landesverfassung sind die Berücksichtigung der Kindeswohls und das Recht auf Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Angelegenheiten festgeschrieben. In der anschließenden Podiumsdiskussion soll der Frage nachgegangen werden, in wieweit diese Rechte auf kommunaler Ebene in die Praxis umgesetzt werden. sw