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Landrat Jan Weckler: »Wir alle sind überfordert«

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Von: Judith Seipel

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»Wenn Gemeinbedarfsflächen wie Turnhallen oder Bürgerhäuser geschlossen werden müssen, um Geflüchtete unterzubringen, ist schon eine Grenze erreicht«, sagt Landrat Jan Weckler im Interview mit dieser Zeitung. © Björn Leo

5000 Menschen, die geflohen sind, haben 2022 im Wetteraukreis Zuflucht gesucht. Landrat Jan Weckler über die immer schwierigere Suche nach geeigneten Unterkünften, die Hürde der Integration und die größte Herausforderung seiner Amtszeit.

Die Pandemie hat die Landkreise in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, weil sie gezeigt hat, wie globale Krisen im Lokalen fortwirken und vor Ort gelöst werden müssen. Das gilt aktuell auch für das Flüchtlingsthema. Die Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, kommen irgendwann auf der kommunalen Ebene an und brauchen ein Dach und ein Bett. Der Wetteraukreis hat vergangenes Jahr 5000 Flüchtlinge aufgenommen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe prognostiziert, dass die Zahlen weiter steigen werden, so Landrat Jan Weckler (CDU). »Da kommt keine Infrastruktur mehr mit«, sagt Weckler beim Interview mit dieser Zeitung im Friedberger Kreishaus.

Herr Weckler, begegnen Ihnen im Alltag geflüchtete Menschen? Wenn ja, woher kommen diese und worüber reden Sie?

Ja, natürlich. Die Ausländerbehörde ist ja hier im Haus, da begegnet man sich ständig und kommt mitunter ins Gespräch. Manchmal erfahre ich dabei sehr persönliche Geschichten. Oft scheitert ein Austausch aber an der Sprachbarriere. Ukrainisch oder Arabisch spreche ich leider nicht.

Bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen des Wetter-aukreises im Juli auf dem Glauberg sagten Sie: »Nur gemeinsam können wir die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft meistern.« Wir haben in den vergangenen Wochen den Eindruck gewonnen, dass die Menschen in Bindsachsen oder Gelnhaar stark verunsichert sind und sich alleingelassen fühlen.

Das, was ich auf dem Glauberg gesagt habe, ist nach wie vor meine feste Überzeugung: Diese Herausforderung ist nur gemeinsam zu meistern, die Städte und Gemeinden mit dem Landkreis und mit der ganzen Gesellschaft. Nicht nur in Bindsachsen und Gelnhaar sind die Menschen verunsichert. Ich kann das gut verstehen, denn es ist ein Kraftakt, die vielen Menschen, die hier ankommen, unterzubringen. Das muss auf viele Schultern verteilt werden. Gerade im Fall von Bindsachsen und Gelnhaar habe ich unzählige Gespräche geführt, ebenso die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kreisverwaltung. Als Landkreis können wir nicht auf Flächen und Gebäude der Kommunen zugreifen, deshalb sind wir auf deren Mithilfe und Vorschläge angewiesen. Wenn vor Ort etwas nicht zustande kommt, ist das auch okay. Statt das Bürgerhaus in Gelnhaar zu belegen, prüfen wir nun auf Anregung der Stadt, ob der »Ortenberger Hof« in Ortenberg sich eignet. Das wird sich in den nächsten Tagen entscheiden. Sporthallen und Gemeinschaftshäuser sind immer die letzte Option. Wir sprechen immer zuerst mit den Gemeinden, die im Aufnahme-Soll sind, weil sie bisher weniger Geflüchtete aufgenommen haben, als sie in Orientierung an der Einwohnerzahl eigentlich müssten. Das wäre sonst unfair gegenüber den anderen. Denn das muss man auch sagen: In vielen Gemeinden läuft es geräuschlos.

Auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister fühlen sich von der Kreisspitze nicht ausreichend unterstützt. Der Schwarze Peter, sagt Cäcilia Reichert-Dietzel als stellvertretende Sprecherin der Bürgermeister-Dienstversammlung, lande schlussendlich bei den Städten und Gemeinden, die mit dem Rücken zur Wand stehen.

Wir stehen als kommunale Ebene, wozu auch der Landkreis gehört, mit dem Rücken zu Wand. Das haben wir ja auch im Oktober in einem gemeinsamen Brief an Bundes- und Landesregierung deutlich gemacht. Jeder Geflüchtete, der uns als Landkreis zugewiesen wird, lebt in einer Kommune von A wie Altenstadt bis W wie Wöllstadt. Gleichzeitig finden wir kaum noch Wohnraum. Aber trotz aller Widrigkeiten haben wir in den vergangenen Wochen und Monaten gut zusammengearbeitet und Lösungen gefunden.

In Kefenrod und Ortenberg hat die Kommunikation offenbar nicht gut funktioniert. Hätten Sie die Kommunen nicht früher informieren müssen, was auf sie zukommt?

Die Kommunen waren von Beginn an mit im Boot und haben das Verfahren mitbestimmt. Allerdings erleben wird gerade eine Unterkunfts- und Akzeptanzkrise. Die Situation ist leider inzwischen so, dass die Bevölkerung bei dem Thema Migration empfindlich reagiert. Der sehr schnelle und große Zuzug überfordert viele Menschen. Auch wir als Behörde sind zunehmend überfordert, die Unterbringung in dieser Größenordnung und mit dieser Schnelligkeit zu gewährleisten. Wir haben seit Oktober über 70 Objekte auf ihre Eignung als Gemeinschaftsunterkunft überprüft. Etwa zehn Prozent davon kommen zustande. Das heißt, wir betreiben einen hohen Ressourcenaufwand für eine kleine Erfolgsquote.

Die solidarische Gesellschaft ist kein Selbstläufer. Und sie ist in den vergangenen drei Jahren überstrapaziert worden. Gerade deshalb braucht sie einen Moderator, der vermittelt zwischen denen, die schon immer hier sind, und denen, die neu hinzukommen. Als Landrat tragen Sie die Verantwortung für alle Menschen im Wetteraukreis.

Es braucht ganz sicher mehr als nur den einen Moderator bei einem Zugang von rund 5000 Geflüchteten in einem einzigen Jahr in einem Landkreis. Die Integration der Menschen, die ein Recht haben, hier zu leben, ist eine Aufgabe, die uns noch über Generationen hinweg beschäftigen wird und der wir uns momentan noch gar nicht zuwenden können. Jetzt geht es konkret um die Vermeidung von Obdachlosigkeit. Spracherwerb und Integration sind die nächsten Schritte. Das kann der Staat nicht alleine lösen.

Das Engagement Ehrenamtlicher ist nicht mehr so groß wie in den Jahren 2015/2016.

Ja, es gibt gewisse Ermüdungserscheinungen und es ist schwieriger geworden, Menschen zu finden, die weitermachen oder wieder einsteigen. Immerhin haben wir in der Ausländerbehörde seither einiges verbessert und mit der Terminvergabe eine Verbindlichkeit geschaffen, sodass in der Regel niemand mehr vergebens nach Friedberg fährt. Außerdem arbeiten wir in einem Pilotprojekt an der papierlosen Akte. Die soll später eine Beratung vor Ort ermöglichen.

In den Dörfern scheint das Sankt-Florians-Prinzip zu herrschen: Hauptsache nicht bei uns. Eine menschenwürdige und sozialverträgliche Unterbringung von Geflüchteten besonders im Ostkreis erfordert einen Masterplan und ein konzertiertes Vorgehen, um niemanden zu überfordern. Die Bürgermeister vermissen solches.

Wir haben ein Konzept und eine Absprache mit den Bürgermeistern, die wir unmittelbar abgestimmt haben, als die Situation im Herbst akut wurde. Wir hatten im vierten Quartal 2022 zum Teil wöchentlich 70 Personen, die ein Bett brauchten. Auch das haben wir in unserem gemeinsamen Brief an Landes- und Bundesregierung angesprochen. Wir sind gesetzlich verpflichtet, die Geflüchteten aufzunehmen. Dabei gibt es keinen Königsweg. Aber das Verfahren ist klar geregelt, da gilt das Gleichbehandlungsprinzip. Jede Kommune muss Menschen aufnehmen. Außerdem sind die kleineren Gemeinden durch die Art der Berechnung bessergestellt worden.

Das Thema ist emotional aufgeladen, die Verunsicherung machen sich Rechtspopulisten zunutze. Die AfD war bereits in Gelnhaar und in Kefenrod. Wie gefährlich ist diese Situation?

Na klar versuchen rechte Parteien, das Thema zu instrumentalisieren. Eine extreme Zuwanderung kann zu einem Konjunkturprogramm für die rechten Kräfte im Land werden. Deshalb ist es umso wichtiger, ihnen das Thema nicht zu überlassen, sondern die demokratischen Kräfte müssen die Herausforderung ehrlich thematisieren. Und es muss auch möglich sein, demokratisch kontrovers über Migrationspolitik zu diskutieren, ohne gleich als rechts abgestempelt zu werden. Wenn wir das nicht tun, fühlen sich die Menschen nicht mehr ernst genommen, werden politikverdrossen oder wenden sich nach rechts. Migrationspolitik ist zuerst eine Bundesangelegenheit. Dort muss man das Thema annehmen und auch auf europäischer Ebene besprechen. Das sehe ich im Moment zu wenig.

Viele sogenannte Weltflüchtlinge sitzen zum Teil seit Jahren in Gemeinschaftsunterkünften fest, weil sie auf dem freien Markt keine Wohnung finden. Wird mit der Einteilung in Ukraineflüchtlinge und »Weltflüchtlinge« einer Unterscheidung in Flüchtlinge erster und zweiter Klasse Vorschub geleistet?

Zunächst gibt es hier eine rechtliche Unterscheidung. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind unmittelbar anerkannt. Sie können sofort eine Wohnung mieten und arbeiten. Geflüchtete, die noch keinen anerkannten Asylstatus haben, müssen in Gemeinschaftsunterkünften leben bis klar ist, ob sie eine Bleibeperspektive haben. Aber es gibt in der Tat immer mehr Vermieter, die lassen eine Wohnung leider lieber leer stehen, als sie jemandem aus Somalia oder Afghanistan zu geben.

Befürchten Sie angesichts steigender Zuweisungen irgendwann an eine Grenze zu stoßen und gar keine Plätze für Geflüchtete mehr anbieten zu können?

Es kommt darauf an, wie sich »Grenze« definiert. Ich finde, wenn Gemeinbedarfsflächen wie Turnhallen oder Bürgerhäuser geschlossen werden müssen, um Geflüchtete unterzubringen, ist schon eine Grenze erreicht. Wenn aber die Zuweisung in dieser Größenordnung weitergehen sollte, werden wir schnell wieder ins Hintertreffen geraten. Die Entscheidung, wie viele Geflüchtete aufgenommen werden und ob Grenzkontrollen oder eine Begrenzung der Zuwanderung notwendig sind, muss die Bundesregierung treffen. Wir auf der kommunalen Ebene haben das nicht zu entscheiden. Wir sind diejenigen, die unterbringen müssen. Im Zweifel werden noch mehr Gemeinbedarfsflächen dafür genutzt werden müssen.

Wie ordnen Sie die Situation mit Blick auf Ihre bisherige Amtszeit ein?

Das ist definitiv meine größte Herausforderung als Landrat, größer als Corona. Die Corona-Politik diente einem Ziel, nämlich die Krise zu überwinden. In der Flüchtlingsfrage können wir die Zuweisung von Land und Bund nicht beeinflussen und sehen aktuell auch keine Besserung, weil ein dauerhafter Zuzug in dieser Größenordnung nicht zu schaffen ist.

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