Mut in »dunkelstem Moment«

Die Bilder erzählen Geschichten. Von ungewöhnlichen Helden; von Menschen in ihren dunkelsten Stunden. Niemand geht achtlos an den Fotos trauernder Familien vorbei. Sie haben einen geliebten Menschen verloren und finden Trost im Wissen, dass deren Organe Leben gerettet haben. Wer die Ausstellung am Uniklinikum Gießen sieht, trifft im Idealfall eine Entscheidung.
Wie Familie Taraman aus Bad Nauheim damals.
Die verwaisten Eltern sitzen im Zimmer ihres verstorbenen Kindes. Es ist ein herzzerreißender Anblick. Ihr 13-jähriger Sohn hatte vor acht Jahren einen Fahrradunfall, einige Tage später wurde der Hirntod diagnostiziert. Die Familie traf die schwerste Entscheidung ihres Lebens. Sie entschloss sich dazu, die Organe freizugeben, damit andere Menschen weiterleben können. »Heute finden wir Trost in dem Gedanken, dass ein Teil von ihm weiterlebt«, sagen sie. Zehn Familien erzählen in der Ausstellung »LebenSpenden« am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) ihre Geschichte, jede einzelne ist anrührend und verlangt Respekt. Denn nicht nur die Verstorbenen sind Helden, die Angehörigen sind es auch. Sie mussten in einem emotionalen Ausnahmezustand eine rationale Entscheidung treffen.
»Dass die Familien sich zur Spende entschlossen haben, ist ein ungeheuer mutiger Schritt«, sagte Dr. Ana Barreiros (Deutsche Stiftung Organspende, DSO) bei der Eröffnung. Denn oftmals entschieden sich Angehörige aus Unsicherheit gegen eine Organspende, da ihnen der Wille des Verstorbenen nicht bekannt sei. Umfragen in der Bevölkerung zeigten laut DSO, dass acht von zehn Bürgern die Organspende befürworten, die Mehrheit habe dies jedoch nicht dokumentiert. Genau dies will die Stiftung mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit ändern. »Wir wünschen uns, dass die Menschen sich entscheiden - wie auch immer«, sagte denn auch Prof. Andreas Böning, Ärztlicher Direktor am UKGM. Er plädierte für die Einführung der gesetzlichen Widerspruchslösung, wie sie in vielen anderen europäischen Ländern üblich ist. Diese besagt, dass eine Organentnahme dann zulässig ist, wenn ein hirntoter Verstorbener dieser zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat.
Wie entlastend eine klare Positionierung für die Angehörigen ist, zeigt die Geschichte der Familie Taraman aus Bad Nauheim. Sie hat im Jahr 2010 Tolga verloren, der damals 24 Jahr alt war. Die Nachricht von seinem Motorradunfall sei ein wahnsinniger Schock gewesen, erinnert sich seine Schwester Filiz Taraman-Schmorde. Ihr kleiner Bruder, das warmherzige, lustige, lebensfrohe Nesthäkchen der Familie, lag schwer verletzt in der Klinik; ein Autofahrer hatte ihm die Vorfahrt genommen. Die Ärzte versuchten alles, um dem jungen Mann das Leben zu retten, doch nach zwei Tagen konnte nur noch der Hirntod festgestellt werden. Die große Familie versammelte sich an Tolgas Bett, den Abschied werde keiner von ihnen je vergessen, schildert Filiz Taraman-Schmorde, Alle weinten, waren fassungslos. Auch den Satz des Arztes werden sie nicht vergessen: »Ich brauche einen Ansprechpartner. Wir sollten über Organspende reden.« Die Familie nannte Filiz als Ansprechpartnerin, und gemeinsam erinnerten sich die Angehörigen an eine Szene bei einer Familienfeier, die etwa vier Wochen zuvor stattgefunden hatte. Eine Tante hatte einen Organspenderausweis dabei und war im Zweifel, ob sie ihn ausfüllen sollte. Die Gäste diskutierten, und auch Tolga hatte eine Meinung: »Natürlich füllst du ihn aus. Organspender sind für mich Helden. Ich würde es tun.« »Und dann«, schildert Filiz Taraman-Schmorde, tippte er mir im Vorbeigehen auf die Schulter, sah mich an und sagte: »Merk dir das bitte, Schwester, okay?«
Dass dieser Satz schon kurze Zeit später relevant würde, ahnte niemand. Doch in ihrem großen Schmerz half er, eine Entscheidung zu treffen. Tolgas Organe haben vier Menschen das Leben gerettet, ein Familienvater bekam sein Herz, er konnte dadurch seine beiden Kinder aufwachsen sehen. »Es ist das Schönste, was man aus dem Tod machen kann«, sagt die Schwester. Es freue sie immer wieder, dass Tolga so großzügig war und sein Herz jetzt in einer Familie schlage, die er selbst nicht haben konnte.
Filiz Taraman-Schmorde engagiert sich seit dieser Zeit für die Aufklärung in Sachen Organspende, sie sieht sich als Stimme der Angehörigen. Die Bad Nauheimerin wünscht sich, dass sich mehr Menschen mit dem Thema auseinandersetzen. Sie sei ihrem Bruder unendlich dankbar, dass sie sich nicht mit Zweifeln quälen musste, vielleicht das Falsche zu tun.
Für die Familien, das weiß sie aus vielen Gesprächen, ist die Organspende ein Trost angesichts des sinnlosen Todes. »Unsere dunkelste Stunde wurde zur hellsten Stunde für andere«, steht in dem Begleittext zu einem der Fotos.