Narrenschiff auf dem Fluss der Zeit

Bei allem Ulk und Spaß ist das Narrenschiff seit dem Mittelalter auch Sinnbild für die Fahrt der Menschen auf dem Fluss des Lebens. Schon damals stellte man es auf Räder und zog es durch die Straßen. Das Ober-Mörler Exemplar steht zwar fest auf seinem Platz mitten im Ort, seine Symbolkraft hat aber besondere Tiefe. Erfinder und Erbauer erinnerten an den 25.
Geburtstag der kunstvollen Großplastik.
Nicht von ungefähr gilt Ober-Mörlen als Fastnachtshochburg. Die karnevalistische Tradition, belegt durch das antike Gemälde der »närrischen Schlittenfahrt« im Schloss, reicht mindestens 270 Jahre zurück. Spätestens mit Gründung der KG Mörlau im Jahr 1948 nahm in »Klein Mainz am Usastrand« das närrische Brauchtum organisierte Formen an. Zu seinem 50. Geburtstag verwirklichte der Verein den lange gehegten Wunsch von einem besonderen Sinnbild für die (Mirler) Fassenacht: Unter großem persönlichen und ehrenamtlichen Einsatz und Spendenaktionen wie dem Verkauf einer limitierten Reihe von Narrenschiff-Kunstdrucken schuf man vor 25 Jahren ein kunstvolles Narrenschiff (im Wert von 150 000 Mark), schenkte es dem Dorf und setzte dessen Brauchtum ein sinnträchtiges Denkmal aus Stahl.
Am 12. September 1998 versammelten sich Fassenachter, Honoratioren und die Feuerwehrkapelle aus Nieder-Mörlen zur feierlichen Einweihung beziehungsweise »Schiffstaufe«. Die Plastik solle den liberalen Geist der Ober-Mörler Fassenacht dokumentieren, sagte an der Seite des damaligen Vorsitzenden Manfred Seipel der KG-Präsident Alexander Trier. Aus Gießen war Museumsdirektor Dr. Friedhelm Häring gekommen, um dem vom Ober-Mörler Künstler Klaus F. Roth ersonnenen Kunstobjekt und seinen Erbauern, allen voran Kunstschlosser Michael Bentele, Walter Grimmel mit seiner Abwassertechnik-Firma sowie allen Vordenkern, Helfern und Unterstützern seinen Respekt zu zollen. In seiner tiefgründigen Festrede zeichnete Häring den Narr als kreativen Kopf aus, der die Dinge auch hinterfrage, um ihnen scherzhaft auf den Grund zu kommen. Klaus F. Roth, selbst leidenschaftlicher Fassenachter, habe immer versucht, durch seine Kunst zu kommentieren, aufzubrechen, infrage zu stellen. Und so schwimmt das vier Meter lange und sieben Meter hohe Narrenschiff von Mörlau seit 25 Jahren mit einer Fülle von Symbolen auf dem Strom der (begrenzten) Zeit: Die beiden miteinander verzahnten Rumpfteile stehen für die beiden Ortsvereine, die gemeinsam die Fastnacht tragen. Die elf farbigen Stangen stellen die Elferräte dar oder können als Symbol für die verschiedenen Persönlichkeiten in einem Boot verstanden werden, die mit vereinten Kräften durchs Leben staken. Sie ragen in das »Wolkenkuckucksheim« mit dem Mond als Ausdruck für das menschliche Glücksbedürfnis, und bei genauer Betrachtung lassen sich immer neue Bilder assoziieren: Spaßmacher, Hofnarr, Till Eulenspiegel, Hanswurst, Schildbürger, sie alle schwingen mit, ohne im Detail dargestellt zu sein. Die Katze als Symbol für Lebensfreude und die Eule als Symbol für die Weisheit der Narren dürfen nicht fehlen.
Seit dem Jahr 2000 erstrahlt das Kunstwerk auch nächtens in voller Schönheit: Nach Entwürfen des vor wenigen Jahren verstorbenen Künstlers Roth schuf Kunstschlosser Bentele eine Eule, deren mit der Straßenbeleuchtung gekoppelte Augen stets auf das Narrenschiff gerichtet sind.
Eine besondere Symbolik
Kurz vor dem 25. Geburtstag der Großplastik widmeten sich jetzt ihre Macher der Geschichte, vertieften sich mit Weggefährten in die Symbolik und stellten in Aussicht, die in den Fastnachtsfarben gehaltenen Stangen aufzufrischen. Das Miteinander zweier konkurrierender Vereine im Dorf - der MCC hatte sich acht Jahre nach Gründung der KG Mörlau abgespalten - habe man bereits vor 25 Jahren in der Symbolik der, wenn auch nicht in Perfektion verzahnten Schiffsrümpfe aufgegriffen. Inzwischen hätten sich die Vereinsstrukturen einander weiter angenähert. Wenn die KG in wenigen Tagen ihr 75-jähriges Bestehen feiert, werden bei der Verbandsversammlung am Sonntagmorgen, 17. September, Hunderte Vertreter närrischer Vereine gemeinsam in der Usatalhalle tagen.