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Zum Tag der Arbeit zeigt Gewerkschaft klare Kante: Streikrecht ist unser schärfstes Schwert

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»Ein Arbeitskampf bewirkt nur Druck auf der Arbeitgeberseite, wenn man diesen nach außen spürt«, sagt Gewerkschafter Dieter Wasilewski. Zuletzt sind die Mitglieder der Eisenbahngewerkschaft EVG - wie hier in Hamburg - auf die Straße gegangen, um in den Verhandlungen mit der Deutschen Bahn Druck zu erzeugen. © DPA Deutsche Presseagentur

Dieter Wasilewski, hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär der IG-Bau aus Nidda, spricht über die spannende Entwicklung der Gewerkschaften, den Wert der Arbeit und das Recht auf Streik.

Die Zeit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert ist geprägt von bahnbrechenden Erfindungen. Während die Wirtschaft einen immensen Aufschwung erlebte, war der soziale Abstieg vieler Menschen enorm. Die ersten Arbeitervereine gründeten sich, um gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Noch immer kümmern sich Gewerkschaften um gerechte Arbeitsverhältnisse. Über die Entstehung der Arbeiterbewegung, die Berechnung des Arbeitswertes sowie die Legitimation des Arbeitskampfes hat Dieter Wasilewski, hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär der IG-Bau, mit dieser Zeitung gesprochen.

Das diesjährige Motto des Tages der Arbeit lautet »Ungebrochen solidarisch«. Was verbirgt sich hinter diesem Titel, Herr Wasilewski?

Wir möchten ein sichtbares Zeichen setzen für eine gerechte und friedliche Zukunft und setzen uns ungebrochen solidarisch dafür ein, dass Krisen nicht auf den Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Ich kann nur alle beschäftigten Arbeitnehmer - ob sie nun Gewerkschafter sind oder nicht - dazu einladen, am 1. Mai zu den Reden zu kommen, und sich die Themen, zu denen wir unsere ungebrochene Solidarität bekunden, anzuhören. In Nidda beispielsweise werden auf dem Wilhelm-Eckhardt-Platz Veranstaltungen der SPD stattfinden.

Eine solche Krise ist die derzeitige Inflationslage. Muss sich der Wert der Arbeit im Zuge der Inflation ändern?

Ja. Krisen, die in der Welt ausgetragen werden, führen in der Regel nicht zu Insolvenzen bei den Arbeitgebern. Insofern muss sich der Wert der Arbeit immer dann ändern, wenn sich gesellschaftliche Umstände so entwickeln, dass Menschen davon existenziell abhängig sind. Folglich müssen wir die Inflationsrate ausgleichen. Bei so einer hohen Rate kommt man nicht mehr mit zwei oder drei Prozent Gehaltserhöhung aus.

Der Arbeitnehmer erbringt die Leistung, der Arbeitgeber den Lohn. Wie wird der Wert der Arbeit generell ermittelt?

Grundsätzlich bestimmen die Tarifverträge den Wert der Arbeit, aber auch andere Parameter - wie das gesellschaftliche Ansehen eines Berufes, die Verantwortung im Betrieb sowie die Wichtigkeit der Funktion - legen den Wert der Arbeit fest. Das Einkommen muss ein sorgenfreies Leben ermöglichen, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gewährleisten und am Ende des Arbeitslebens für eine lebenswerte Rente ausreichen. In den Tarifverhandlungen werden zusätzlich die Inflations- und Preissteigerungsrate miteinbezogen.

2005 wurde die Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern rechtlich aufgehoben. Inwiefern beeinflusst diese Differenzierung noch heute den Wert der Arbeit?

Der Gesetzgeber fordert die Gleichbehandlung von Angestellten und Arbeitern in Betrieben. Faktisch bestehen aber an einigen Stellen immer noch unterschiedliche Regelungen, wie zum Beispiel in Bezug auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sowie Karenztage. Auch hat ein Angestellter bei der Aufnahme eines Darlehens bessere Chancen als ein Arbeiter, da letzterer kürzere Kündigungsfristen hat. Zudem ist der Stellenwert in der Gesellschaft ein anderer. Hier wird es noch Jahrzehnte dauern bis zum Erreichen einer Angleichung.

In Gedern und Wölfersheim gab es zuletzt Warnstreiks der IG-Metall. Welche Möglichkeiten haben Gewerkschaften, ihre Forderungen durchzusetzen?

Zwei Instrumente sind der Vollstreik und der Warnstreik. Einem Vollstreik geht stehts eine Urabstimmung als erste Arbeitskampfmaßnahme voraus und die Dauer des Streiks ist variabel. Warnstreiks hingegen dürfen nach der Friedenspflicht auch ohne diese Abstimmung durchgeführt werden und die Länge wird meistens vorher mit den Arbeitgebern abgestimmt. Arbeitsrechtliche Konsequenzen sind weder bei einem Vollstreik noch Warnstreik zu erwarten.

Streiks beeinflussen Menschen auf unterschiedlichen Ebenen. Ist dieses Verhalten rücksichtslos oder notwendig?

Das Streikrecht ist unser schärfstes Schwert und wenn wir das nicht haben, sind wir nicht mehr in der Lage, Forderungen durchzusetzen. Ein Arbeitskampf bewirkt nur Druck auf der Arbeitgeberseite, wenn man diesen nach außen spürt. Es ergibt keinen Sinn, sich in ein stilles Kämmerlein zurückzuziehen, um zu streiken, und niemand bekommt es mit. Zudem ist das Streikrecht durch die Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich verankert. Hätten wir dieses Recht nicht, wären wir Bittsteller und was man dann erreicht, erleben gerade alle, die keinen Tarifvertrag haben und für den Mindestlohn arbeiten müssen.

2023 war bisher geprägt von Streiks unter anderem des öffentlichen Nah- und Flugverkehrs. Darf das Streikrecht die kritische Infrastruktur einschränken?

Ja. Zum einen steht bei sämtlichen Streiks immer die Verhältnismäßigkeit im Vordergrund. Zum anderen werden stets Notfallpläne für die kritische Infrastruktur ausgearbeitet. Wenn es beispielsweise während eines Arbeitskampfes zu einem Wasserrohrschaden kommt, der die Energieversorgung betrifft, wird eine Notfallregelung eingesetzt und der Schaden beseitigt, auch wenn der gesamte Bau in Deutschland streiken würde.

Die Friedenspflicht ist eine Art Waffenstillstand zwischen den Parteien bis zum Ablauf des Tarifvertrags. Ist die Einhaltung dieser Pflicht unter den Herausforderungen unserer Zeit vertretbar?

Ja. Die Friedenspflicht sagt nur aus, dass keine Arbeitskampfmaßnahmen durchgeführt werden dürfen. Das bedeutet nicht, dass Arbeitgeber in besonderen Situationen nicht andere Lösungen finden können, wie jetzt die Inflationsausgleichsprämie. Hier kann ich nur an die Arbeitgeber appellieren, dass man gemeinsam mit den Sozialpartnern bespricht, was die Beschäftigten ausbezahlt bekommen sollen. Zudem besteht die Möglichkeit, Zusatztarifverträge und Ergänzungstarifverträge auszuhandeln.

Das Ultimatum für den Verkauf des Unternehmens Glatfelter in Ober-Schmitten ist am Karsamstag abgelaufen. Wie beurteilen Sie die Lage?

Es handelt sich um einen unhaltbaren Zustand, da sowohl die Betriebsräte als auch die Belegschaft im Dunkeln gelassen werden. Teilweise haben die Stadt Nidda und der Ortsbeirat mehr Informationen und zeitnähere Auskünfte als die Betriebsräte und Belegschaft selbst. Zu dieser Problematik gibt es eine Resolution der Stadtverordneten, laut derer sich das Magistrat um diese Problematik zu kümmern hat. Nach meinem Urlaub werde ich das als Stadtrat auch sofort wieder in Angriff nehmen.

Die ersten Gewerkschaften in Deutschland entstanden im 19. Jahrhundert. Was waren die ursprünglichen Ziele und wie haben sich diese im Lauf der Zeit geändert?

Es ging anfangs darum, die Lebensbedingungen zu gestalten. Noch heute setzen sich Gewerkschaften für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein. Die Menschen, die sich damals einsetzten, waren die Vorreiter für das heutige Arbeitszeitgesetz, geregelte Kündigungsfristen und Branchenmindestlöhne.

Noch heute verhandeln wir jährlich über Branchenmindestlöhne. Nur unterhalten wir uns nicht mehr über Kündigungsfristen und Arbeitstage, da all dies mittlerweile gesetzlich geregelt ist. Auch wird man heute für Gewerkschaftsarbeit freigestellt, während die Menschen damals beim Eintritt in eine Gewerkschaft teilweise um ihr Leben fürchten mussten. Insofern habe ich größten Respekt vor den Menschen, die vor mehr als 150 Jahren die ersten Arbeitervereinigungen ins Leben gerufen haben.

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