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Passgenauer Tiefschlaf für jedes Tier

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Der Chirurg kümmert sich um die komplizierte Beinfraktur eines Jagdhundes, die Anästhesistin überwacht die Vitalfunktionen des Tieres. © SCHEPP

Es sieht aus wie in jedem modernen Krankenhaus. Hightech-Operationssäle, Aufwachräume mit Überwachungsmonitoren. Statt Betten stehen jedoch Boxen darin, und spätestens jetzt wird deutlich, dass der Ort des Geschehens eine Tierklinik ist. Wichtig für das Gelingen jeder OP ist eine passgenaue Anästhesie. Die ist in der Tiermedizin noch nicht so lange Standard wie in der Humanmedizin.

Die Gießener Fachtierärzte sind stolz darauf, hier weit vorn zu sein.

Der eine hatte einen Darmverschluss, der von einem Aprikosenkern verursacht wurde. Der nächste kämpft mit einer eitrigen Entzündung des Brustkorbs, die durch einen wandernden Fremdkörper ausgelöst wurde - in diesem Fall einer Getreidegranne. Die Tierpflegerin Jenny Caspers hat die beiden Patienten im Aufwachraum im Blick, in Kürze kommen weitere dazu. Ein Jagdhund mit einem komplizierten Knochenbruch, der in der Uni nachoperiert werden muss sowie eine Französische Bulldogge mit einem Problem in der Halswirbelsäule.

Für den Erfolg der Operation und die Rekonvaleszenz der Patienten sind neben der Kompetenz der Operateurin bzw. des Operateurs eine individuell angepasste Anästhesie und umsichtige Nachsorge von großer Bedeutung. »Da hat es im Laufe meines Berufslebens unglaublich große Fortschritte gegeben«, sagt Prof. Sabine Tacke. Die Fachtierärztin für Chirurgie, Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie hat an dieser Entwicklung in der Tierklinik Gießen maßgeblich mitgearbeitet. Mediziner wie sie haben dafür gesorgt, dass die Standards aus der Humanmedizin Maßstab wurden und die Anästhesie in der Ausbildung der Tiermediziner eine größere Rolle spielen als früher.

Heute haben vierbeinige Patienten eine »eigene« Anästhesistin bzw. einen Anästhesisten. Das ist auch gut so, denn durch die heute machbare Präzisionsarbeit sind die Überlebenschancen deutlich besser als noch vor 20 Jahren. Damals standen in der Veterinärmedizin weder die Gerätschaften und Medikamente noch das Knowhow zur Verfügung, so dass Eingriffe erheblich riskanter waren. Tacke: »Operationen in Bauch- und Brustraum waren aus heutiger Sicht nicht selten ein Himmelfahrtskommando«.

Ohne Sedation geht es in der Veterinärmedizin leider nie. Bei kurzen Eingriffen reicht eine Injektionsnarkose, bei größeren entscheiden sich die Ärzte für eine Intubationsnarkose, und die muss individuell angepasst sein. Als erster Schritt wird ein Venenkatheter gelegt, über den das Tier sedierende Medikamente erhält. Über diesen Zugang wird der Patient während und nach der Operation mit Schmerzmitteln, Nährstoffen und Flüssigkeit versorgt. Wenn das Tier ruhig gestellt ist, wird ein weicher Schlauch in die Luftröhre eingebracht, durch diesen Tubus wird nun das Narkosegas zugeführt und das Tier beatmet.

Während der Chirurg Dr. Christian Feichtenschlager sich an diesem Tag z.B. um die Fraktur des Beins kümmert oder den verschluckten Aprikosenkern aufspürt, kontrolliert die Anästhesistin Dr. Andrea Gollwitzer die Vitalfunktionen des Tieres. Sie hat den Herzschlag, das Ausatemgas, die Sauerstoffsättigung und den Puls im Blick und kann jederzeit nachsteuern. Der Jagdhund mit dem komplizierten Beinbruch ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig die begleitende Narkose ist, denn es dauert eine Weile, bis die Fraktur gerichtet ist und der Fixateur externe sitzt. Das ist eine Haltevorrichtung, die in der Chirurgie verwendet wird, um den Bruch ruhig zu stellen,

Wenn der Vierbeiner später aufwacht, wird er keine Schmerzen verspüren, weil er nicht nur während, sondern auch nach der OP kontinuierlich mit Schmerzmitteln versorgt wird. Die Intensivpatienten, die nicht nur währen der OP, sondern auch im Aufwachraum sorgfältig überwacht werden, bekommen nicht nur Elektrolytlösungen, sondern recht bald auch schon Sondennahrung. »Heilung braucht Energie, deshalb unterstützen wir diesen Prozess früh«, sagt Tacke. Auch für den Darmverschluss-Patienten ist dies wichtig, denn er war in keinem guten Zustand, als er in die Klinik kam. Den Stein des Anstoßes hatte man nicht sofort entdeckt, der Hund hatte mehrere Tage an Erbrechen, Fieber und Bauchschmerzen gelitten. Jenny Caspers päppelt den erschöpften Patienten wieder auf, bis er nach Hause entlassen werden kann. Die Tierpflegerin, die selbst mehrere Vierbeiner zu Hause hat, weiß genau, dass Zwei- und Vierbeiner unter der Trennung leiden. Und da es in einer Tierklinik keine Besuchszeiten gibt, muss sie für eine Weile Herrchen und Frauchen ersetzen. Ihre Zuwendung, da ist sie sicher, ist auch ein wichtiger Teil der Rekonvaleszenz. »Jenny ist eine der guten Seelen des Hauses«, sagt Tacke.

Die Patienten der Tierklinik werden in der Regel von den Haustierärzten überwiesen. Das spezialisierte Wissen sowie die Möglichkeiten einer Hightech-Diagnostik und -Therapie sind eine Ergänzung zu den Leistungen der niedergelassenen Ärzte. Die Klinik ist für Tierbesitzer eine Chance, ihr vierbeiniges Familienmitglied zu retten.

»Machen Sie alles, was geht«, ist ein Satz, den wir oft hören«, erklärt Tacke. Die Behandlung und der stationäre Aufenthalt haben aber auch ihren Preis, es kommen schnell vier- oder gar fünfstellige Summen zusammen. Das ist nicht nur für die Tierhalter, sondern auch für die Klinik ein Problem, denn sie bleibt häufig auf den Kosten sitzen. Immer mehr Patientenbesitzer sind nicht in der Lage, ihre Schulden zu begleichen. Tacke, die nicht nur Chefärztin der Anästhesie ist, sondern auch Präsidentin der Landestierärztekammer, weiß, dass auch die niedergelassenen Kollegen enorme Probleme mit nicht gezahlten Rechnungen haben. »Tierärzte müssen sich sogar dafür rechtfertigen, erbrachte Leistungen in Rechnung zu stellen«, sagt sie.

Die Patienten im Aufwachraum ahnen von diesen Sorgen nichts. Für sie ist die Welt in Ordnung, wenn nichts weh- tut und Jenny Caspers mit dem ersten Leckerchen vorbei kommt.

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Im Aufwachraum: Prof. Tacke schaut nach einem frisch operierten Patienten. Dieser ist noch »verkabelt«, damit man sehen kann, ob alles in Ordnung ist. © SCHEPP

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