Potenzial in Krisenzeiten
Man sagt ja, dass Krisen, denen man sich gegenüber sieht, das Potenzial offenbaren, das in einem steckt. Beim Blick auf die aktuelle Corona-Krise - und vor allem die zahlreichen Herausforderungen, mit denen sie uns konfrontiert - müsste da im Augenblick eine ganze Menge Potenzial zusammenkommen. Denn vieles, was man noch vor einigen Wochen nicht für möglich gehalten hatte, ist nun Realität geworden und bedarf einer Lösung, wenn das tägliche Leben auch nur halbwegs in geordneten Bahnen weiterlaufen soll.
*Wie gestalten Risikogruppen eigentlich ihren Alltag in dieser Zeit? Sie sind noch mehr als alle anderen von den Auswirkungen der Pandemie betroffen, viel stärker eingeschränkt und an ihr häusliches Umfeld gebunden. Was tut man da mit seiner Zeit, wenn viele Dinge, die früher selbstverständlich waren, beispielsweise Ausflüge, Besuche und ähnliches, nun nicht mehr möglich sind? Einen Einblick lieferte uns diese Woche Doris Böhnisch aus Gedern. Ihr Mann und sie sind Teil dieser Risikogruppe, "stark gefährdet, und das nicht nur wegen ihrer Vorerkrankungen, sondern einfach altersmäßig", wie Böhnisch es selbst beschreibt. Die Gedernerin lässt in diesen Zeiten ihrer Kreativität freien Lauf, indem sie schreibt. Vielfach über Alltägliches, das sonst vielleicht nicht der Erwähnung wert gewesen wäre. Für Böhnisch nicht nur eine kreative Form der Beschäftigung, sondern auch der Versuch, eine Zeit in unterschiedlichsten Facetten für die Nachwelt festzuhalten, die vielen immer noch irreal anmutet. Und der Beitrag hatte offensichtlich "Potenzial"! Erste Rückmeldungen zu einem Nachahmeffekt haben die Redaktion bereits erreicht.*Alles mögliche Potenzial und jedwede Kreativität werden auch in den kommenden Monaten, vermutlich sogar Jahren, bei Parlamenten und Verwaltungen in den Kommunen gefragt sein, wenn es darum geht, den künftigen finanziellen Spielraum abzustecken. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass in zahlreichen Städten und Gemeinden die Auswirkungen der Pandemie auf die Haushalte enorm sein werden. So ist schon jetzt damit zu rechnen, dass vielen Kommunen massive Teile der Gewerbesteuereinnahmen wegbrechen werden, weil zahlreiche Unternehmen selbst in große Schwierigkeiten gekommen sind. Auch Beiträge für Kindergärten und Kindertagesstätten werden fehlen, weil keine Leistungen erbracht werden konnten, gleichzeitig sind Betriebskosten und Gehälter weiter zu zahlen. Ähnlich sieht es derzeit bei Schwimmbädern aus - sowohl die Hallen aber besonders auch die Freibäder. Niddas Stadtkämmerei erklärte bereits, dass der Stadt derzeit monatlich insgesamt ein sechsstelliger Betrag für den Haushalt entgehe. Was ist und wird in Zukunft noch leistbar, was kann man sich nicht mehr erlauben? Hier sind nach derzeitigem Stand enorme Einschnitte zu erwarten. Da braucht es wahrlich kreative Köpfe, um die Auswirkungen so gut es geht abzufedern. *Dass besagtes Potenzial leider nicht immer nur auf der positiven Seite zu finden ist, zeigte diese Woche ein Beispiel, über das uns die Pressestelle des Wetteraukreises informierte. Da stürzt ein offensichtlich gehbehinderter Mann auf einer Straße an einer Verkehrsinsel mit seinem Elektrorollstuhl um, seine transportierten Einkäufe verteilen sich über die Fahrbahn und er bleibt hilflos auf dem Asphalt liegen. Die Fahrbahn ist versperrt, Autos stauen sich und können nicht weiterfahren. Aber anstatt auszusteigen und dem Hilflosen beizustehen, warten die Meisten erst einmal. Schließlich reagiert eine hinzugekommene Mitarbeiterin der Kreisverwaltung und hilft dem Mann mit Hilfe eines Paketboten und einer Passantin, die sich ebenfalls ein Herz fassen, wieder auf. Sie setzen ihn zurück in seinen Rollstuhl und sammeln seinen Einkäufe ein, während die anderen Autofahrer in ihren Fahrzeugen sitzenbleiben. Mich machte die Beschreibung dieser Situation fassungslos, zunächst auch wütend und dann schließlich traurig. Warum zeigen so viele im Angesicht der Not eine derartige Passivität? Nun, die Sorge um die eigene Gesundheit und die seiner Angehörigen mag in dieser Pandemie-Zeit sicherlich wichtig sein. Aber kann dies allen Ernstes der Grund sein, eine offensichtlich hilflose Person einfach so ihrem Schicksal zu überlassen oder einfach zu warten, bis sich ein Anderer dieser Aufgabe annimmt? Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass all diejenigen, die da in ihren Autos saßen und nichts taten, entweder selbst einer Risikogruppe angehörten oder mit diesen unter einem Dach leben, sodass sie eine Ansteckung nicht riskieren konnten. Es zeigt sich offenbar, dass bei einigen selbst in diesen herausfordernden Zeiten noch eine ganze Menge Potenzial darauf wartet, gefunden und aktiviert zu werden!