»Reisen ist nicht Urlaub«

Matthias Politycki gilt als einer der renommiertesten deutschen Schriftsteller und Essayisten der Gegenwart. In seinem neuen Roman, »Alles wird gut - Chronik eines vermeidbaren Todes«, führt er den Leser in das Äthiopien des Jahres 2020. Er zeigt eine unbekannte Welt, erzählt von einer Gesellschaft mit archaischen Ritualen und fragt, wie man kulturelle Grenzen überschreiten kann, wenn keine gemeinsame Sprache zur Verfügung steht:
Am Donnerstag ist der Autor zu Gast bei »Friedberg lässt lesen«.
Ihre jüngsten Romane spielen in Afrika. Hegen Sie eine besondere Passion für diesen Kontinent?
Es ist jedenfalls der Kontinent, der mich als Reisender am meisten fordert. Und dabei auch regelmäßig mit neuen Erkenntnissen überrascht. Sofern man hinter die Kulissen reist und sich aufs »Fremde« einlässt, kann es überall faszinierend sein - wobei das Fremde für mich schon in den Außenbezirken von Wien beginnt. Überall mache ich Notizen, manchmal entstehen Gedichte oder Romane, etwa während meiner Zeit auf Kuba oder in Samarkand. Oder in London, wo es mir die wunderschönen Pubs mit ihrem erstaunlich schlechten Bier angetan hatten, daraus entstand das Buch »London für Helden. Expeditionen ins Bierreich«.
Nun sind Ihre Aufbrüche hinaus in die Welt seit 40 Jahren alles andere als Reisen wie sie die Mehrzahl der Touristen unternimmt.
Reisen ist das Gegenteil von Urlaub. Sofern man die fremde Kultur eines Gastlands ernst nimmt, werden irgendwann auch die eigenen Überzeugungen infrage gestellt. Reisen ist praktische Relativitätstheorie, wer nicht voller Fragen und Zweifel heimkehrt, war gar nicht richtig weg.
Wie sind Sie auf Äthiopien als Setting gekommen?
Während der Besteigung des Kilimandscharo mit zwei Freunden fragten wir uns: Wohin sollten wir unbedingt noch reisen, solange wir das schaffen? Es sind ja nicht nur die physischen Entbehrungen, die man verkraften muss, sondern auch die mentalen. Wie oft ist man auf einer Reise verunsichert, wütend oder traurig!
So fiel die Wahl schließlich auf Äthiopien?
Ja, aber ohne jeden literarischen Hintergedanken. Ich reise nicht, weil ich mir Inspirationen erhoffe, sondern weil ich neugierig bin. Dann erlebten wir freilich etwas, das über Nacht zum Anfang des neuen Romans wurde.
Ihre Protagonistin vom Volk der Suri kommt plötzlich auf Sie zu, zeigt Interesse an Ihnen und wird im Laufe des Abends von einheimischen Männern, darunter sogar ihr Bruder, mit Stockhieben in der Öffentlichkeit brutal gezüchtigt und gedemütigt. Sie ist derart verzweifelt, dass sie auf einen Baum steigt und sich erhängen will.
Das mitzuerleben, war schier unerträglich, es hat mir das Herz zerrissen. Immer wieder war einer von uns im Begriff einzugreifen, es wurde uns jedoch bedeutet: Hier haben wir das Sagen, ihr seid nur zu Gast. Die ganze Nacht lag ich wach, am Morgen war mir klar, dass ich darüber schreiben muss. Allein schon deshalb, um dieser Frau, die sich so tapfer gegen die Männerkultur ihres Dorfes gewehrt hatte, eine Stimme zu geben.
Was ist später mit dieser Frau passiert?
Wie es in der Realität mit ihr weiterging, weiß ich nicht, wir fuhren am nächsten Morgen ab und alles, was im Roman dann folgt, ist Fantasie und, nun ja, Arbeit.
Öffnet das Buch über Afrika die Augen? Desillusioniert es womöglich jene, die sich Afrika als Safari-Postkarte mit »edlen Wilden« vorstellen?
Es ist zunächst mal ein Roman, er soll gar nichts - außer dem Leser, hoffentlich, eine spannende Geschichte zu bieten. Natürlich zeigt er ein anderes Afrika als jenes, das wir aus den medialen Diskursen kennen, darum haben mich meine afrikanischen Begleiter auch auf dieser Reise ausdrücklich gebeten: »Please show them the real Africa.«
Aber was ist »Afrika«?
Ein Flickenteppich von Kulturen und damit von Traditionen, Werten, Haltungen. Darunter immer wieder auch etwas, das aus unserer Sicht schwer zu ertragen ist. Aber wir sollten bedenken: So wie unsere eignen moralischen Maßstäbe aus einer langen geschichtlichen Entwicklung heraus ihre Berechtigung haben, haben das auch die ihren.
Wie meinen Sie das?
Nicht selten erzählen oder zeigen mir die Einheimischen etwas, das nicht in unser Bild von ihnen passt. Oder aus unsrer Warte gutzuheißen ist. Dann muss ich jedes Mal neu darüber nachdenken, ob ich überhaupt berechtigt bin, unsre Überzeugungen einzuklagen.
Wieso?
Natürlich stehe ich auch in der Fremde dazu, aber vor Ort ist es immer viel komplizierter, als man es sich zu Hause vorgestellt hat - zu kompliziert für eine einzige Überzeugung. Vertreter einer lautstarken Fraktion des Zeitgeistes werden nicht erfreut sein, wenn ein weißer Deutscher über Afrika schreibt.
Stichworte: kulturelle Aneignung und Wokeness.
Ich unternehme meine Reisen, sofern es möglich ist, in Begleitung von Einheimischen. So reise ich von vornherein auf Augenhöhe mit meinen Gastgebern, ein Blick von oben herab ist angesichts des kameradschaftlichen Umgangs, den man dabei pflegt, ausgeschlossen.
Wie muss man sich das vorstellen?
Meine Begleiter wissen, warum ich mir Notizen mache, oft nehmen sie lebhaft Anteil daran. Sie sind froh, wenn sich jemand für ihr Land und ihre Probleme interessiert. Für eine solch »archaische« Kultur wie die der Suri interessiert man sich ja schon in Äthiopien nicht sonderlich. Ich glaube, es hat noch nie jemand, ob schwarz oder weiß, einen Roman geschrieben, der im Land der Suri spielt, geschweige denn mit einer Suri-Frau in der Hauptrolle.
Wie kommt das an?
Meine afrikanischen Begleiter sind regelmäßig empört darüber, dass man im Westen neuerdings verbieten möchte, sich als Weißer in ihre Perspektive hineinzuversetzen. Sie erscheinen mir in dieser Haltung mehr der Aufklärung und - pathetisch formuliert - einem völkerverbindenden Humanismus verpflichtet als wir. Eine wie auch immer geartete wechselweise »Aneignung« ist für sie die notwendige Basis von Austausch und Respekt.
Wie sehen Sie Ihre Aufgabe als Schriftsteller?
Ich sehe meine Aufgabe als Schriftsteller auch darin, die neu errichteten Grenzen immer wieder zu überschreiten. Gerade in Zeiten wie der unseren müssen wir miteinander im Gespräch bleiben.
Suchen Sie die Extreme?
Ich suche sie gewiss nicht, aber manchmal stolpere ich in die Extreme hinein. Bei einer meiner früheren Reisen wäre ich in Burundi beinahe an einer Blutvergiftung gestorben, meine Frau hat mir das Leben gerettet. Jahrzehnte später ist das der Kern meines vorigen Romans geworden.
Sind Sie abenteuerlustig?
Es ist nicht nur die Abenteuerlust, die mich immer wieder in die Fremde drängt - und manchmal auch ans Limit. Dort sind ganz einfach Stoffe, die man nicht vom Schreibtisch aus entwickeln kann, man kann sie sich nur selbst an den Originalschauplätzen abholen.
Daher reisen Sie?
Ich reise für künftige Leser mit. Und das werde ich weiterhin, solange ich es noch kann.
