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Flüchtlingshelfer: Ich habe gelernt, zu geben

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Per Zufall ist Martin Schülli Flüchtlingshelfer geworden. Trotz der Anstrengung möchte er die Arbeit nicht missen. © Lothar Halaczinsky

Seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015/2016 bietet Martin Schülli Geflüchteten seine Hilfe bei der Eingliederung an. Viele neue Freunde hat der 58-jährige Rosbacher dadurch gefunden, sagt er.

Rund 200 Flüchtlinge sind derzeit in Rosbach untergebracht, etwa 60 Prozent von ihnen sind Ukrainer, der Rest kommt aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern des Nahen Ostens. Dreimal wöchentlich werden der Stadt neue Asylsuchende zugewiesen. Einer von denen, die ihnen bereits seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015/2016 ihre Hilfe bei der Eingliederung anbieten, ist Martin Schülli. »Manchmal fand ich es anstrengend oder gar nervig, aber unterm Strich ist für mich ein großer Mehrwert herausgekommen«, sagt der 58-Jährige, der als Qualitätsbeauftragter arbeitet.

Durch einen Zufall ist er in das Helferteam »hereingerutscht«, heute blickt er auf viele erfolgreiche Hilfeleistungen für die Geflüchteten zurück. »Manche haben noch nie in ihrem Leben eine Steuererklärung gemacht und wissen nicht einmal, was das ist«, berichtet er. Für viele sei es schwierig, sich in der deutschen Bürokratie zurechtzufinden, und es mangele bisweilen auch am Verständnis für die Bürgerpflichten. So fehlten in einem Fall für die Steuererklärung die Lohnnachweise von mehreren Monaten. »Der Mann erzählte mir, er habe sich über den betreffenden Arbeitgeber so geärgert, dass er die Unterlagen einfach weggeworfen habe.« Da müsse man erstmal erklären, dass das in Deutschland so nicht gehe. Der Mann habe ihm die Adresse des Arbeitgebers gegeben - in der Erwartung, dass Schülli die Unterlagen einholt. »Ich habe ihm gesagt, dass er sich schon selbst darum kümmern muss.« Schülli blieb standhaft, und irgendwann waren die Unterlagen auch komplett.

Voll Anerkennung spricht der Rosbacher von einer 14-Jährigen aus der Nähe von Kiew, die nach dem Unterricht an der deutschen Schule noch für den Schulabschluss in der Ukraine paukt. Wegen der unterschiedlichen Bildungssysteme und der Ungewissheit, wo sie auf Dauer leben werde, wolle sie für jeden der Fälle einen gültigen Abschluss vorweisen können. »Momentan scheint sie die Freude am Lernen aber etwas verloren zu haben«, vermutet der Flüchtlingshelfer und zeigt durchaus Verständnis für das Mädchen. »Wenn ihre Altersgenossen mit Freunden unterwegs sind, sitzt sie allein zu Hause und lernt.« Doch nicht nur das Lernen hindere sie daran, sich mit Freunden zu treffen. Sie lebt mit ihrer Mutter an einem Ort mit schlechter Verkehrsanbindung. Deshalb kommt Schülli jede Woche mit dem Bus der katholischen Pfarrgemeinde St. Michael vorbei, um mit ihnen die Einkäufe für die nächsten Tage zu tätigen. Während dieser Touren sind echte Freundschaften entstanden. Man trifft sich zu Weihnachten oder zu Geburtstagen und hilft sich auch untereinander. »Als ich an Corona erkrankte, waren es die Flüchtlinge, die für mich einkaufen gingen«, erzählt Schülli.

Verwundert war Schüller aber eines Tages, als die Familie ihm signalisierte, er brauche nur noch alle zwei Wochen vorbeizukommen. Er fand schließlich heraus, dass sie Ausweise für die Friedberger Tafel bekommen hatten und sich schämten, ihm das zu sagen. Sie waren mit dem 9-Euro-Ticket nach Friedberg gefahren und schleppten die Einkäufe selbst nach Hause.

Was die Deutschen lernen können

Inzwischen macht der Pfarrbus auch die Runde zur Tafel, und die Scham ist überwunden. »Vielen Flüchtlingen fällt es schwer, sich unseren Verhältnissen anzupassen«, weiß Schülli. Er erzählt von einem Flüchtling, der 2015 kam, hier eine Ausbildung zum Installateur absolvierte und in der Firma eine Festanstellung bekam. Durch einen Wechsel in der Geschäftsführung bekam er eine Frau als Chefin. »Seine Landsleute haben ihn verachtet, weil das in seiner Heimat einfach undenkbar ist.« Inzwischen habe sich der Mann sich selbstständig gemacht und sei sein eigener Chef.

Für Schülli sind solche Lebensläufe Beispiele für gelungene Integration, die den Betroffenen jedoch eine Menge Chrarakterstärke abverlangen. Er kennt aber auch Beispiele, wo Deutsche etwas von den Flüchtlingen lernen könnten. So der afghanische Flüchtling, dessen Großvater seine Familie noch durch harte Arbeit im Baumwoll-Anbau ernährte. »Er hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass wir Deutschen unsere 3-Euro-T-Shirts aus Baumwolle bei Billig-Discountern kaufen und sie nach dreimal Tragen schon wieder wegwerfen.« Etwas mehr Wertschätzung für der Hände Arbeit sei seiner Meinung nach angebracht.

Für Schülli ist es eine große Chance, in der Flüchtlingsarbeit mitmachen zu dürfen. Die persönliche Erfahrung mit den Geflüchteten sei ihm wichtiger geworden als jeder Fernsehbericht. Er habe gelernt, zu geben - und dabei sehr viel mehr zurückbekommen.

Die Sache mit dem Dialekt

Flüchtlingshelfer Martin Schülli erinnert sich gut an die junge Frau, bei der es im Deutschunterricht haperte. Als Schülli, der die Sprache aus seiner badischen Heimat nicht verleugnen kann, mit ihr nach Feierabend üben wollte, meinte eine Deutschlehrerin: »Das würde mehr schaden als nutzen«. Sein Dialekt sei einfach zu dominant. Hinterher waren Schülli wie auch seine Schülerin gleichwohl stolz auf das Erreichte: Sie war in ihrer Gruppe die einzige, die die B1-Prüfung bestand. Das Goethe-Zertifikat B1 ist eine Deutschprüfung, die eine selbstständige Verwendung der deutschen Sprache offiziell bestätigt. Sie gehört zu den Mindestanforderungen bei einer Einbürgerung.

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