Sehnsuchtsort Amerika

Zur Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten die Region Oberhessen und ganz Deutschland eine Auswanderungswelle in die USA. Nicht alle fanden ihr Glück, so mancher schaffte es nicht einmal aufs Schiff.
E ine Überfahrt »in neun Tagen mit dem Dampfer des Norddeutschen Lloyd von Bremen nach Amerika«, bot Agent Carl Schneider aus Büdingen an. Für die Reise in die Neue Welt, von Hamburg über Le Havre nach New York warb Mitte des 19. Jahrhunderts mit Anzeigen in der regionalen Presse auch die Hamburg-Amerikanische-Paket Gesellschaft. Auskunft erteilten Agenten vor Ort, etwa August Reuning in Nidda, C. F. Schleuning in Friedberg und Carl Moog in Gedern.
Abenteuerlust war selten der Grund für Menschen aus Oberhessen, sich auf die Anzeigen zu melden. »Ein besseres Los finden wir überall«, hieß es unter ihnen. Denn in den ländlichen Regionen mit dem rauen Klima mussten Bauern nach Ende des Erbrechts für den Ältesten auf immer kleineren Parzellen wirtschaften. Der Ertrag reichte kaum für das tägliche Essen. Immer mehr Landwirte verarmten durch Missernten und besonders gravierend durch die Kartoffelfäule 1845/46. Der Bedarf an Getreide stieg - Brot war kaum bezahlbar. 1850/51 herrschte im Vogelsberg Hungersnot.
Auch Handwerkern ging es nicht besser. Die Industrialisierung schritt voran. Wer da in Heimarbeit Stoffe webte oder Flachs verarbeitete, konnte mit den niedrigeren Preisen und der geforderten Menge kaum mithalten, die große Webstühle leisteten. Oberhessen war 1834 »die ländlichste der drei Provinzen des Großherzogtums Hessen«.
Betrügern aufgesessen
Wer die Reise über den Atlantik wagte, musste seine Auswanderung vorher veröffentlich kundtun. Drei Monate bis zur Abfahrt konnte man noch etwaige Schulden einfordern. So finden sich im Stadtarchiv Ortenberg aus Selters Hinweise auf »Mobiliar und sonstige Versteigerungen 1833-1844« oder die »Pfändungsprotokolle 1830-1890.« Dort lässt sich auch nachschlagen, was es mit der Auswanderung aus Wippenbach auf sich hatte. So sind alle Akten über die Auswanderer aufgelistet, inklusive des »Antrags auf Sonderfällung von Bäumen im Gemeindewald« und der Verteilung des Gelds, »welches aus dem Holzverkauf eingenommen wurde.«
Dass es zu diesem kam, ist eine besondere Geschichte. So hatten ausreisewillige Wippenbacher dem Dorfschullehrer anvertraut, sich um die Dinge zu kümmern, die zu erledigen waren, bis sie in Bremerhaven an Bord gehen könnten. Auch ihr Geld für die Passage. Doch als sie am Kai ankamen, fehlten der Lehrer und ihre Ersparnisse. Da war die Not groß. Zu Hause kein Haus und Hof mehr. Abhilfe schaffte ein Bittbrief. Vom Großherzogtum erhielten die Betrogenen die Erlaubnis, ein Waldstück zu roden. Das Geld des Holzverkaufs half jenen, die weiter nach Übersee wollten, die Reise zu bezahlen. Und jenen, die doch in der Heimat bleiben wollten, das neu gewonnene Areal anders zu nutzen. Die Erinnerung an das Ereignis hält bis heute auch der Straßenname »Zum Treuer« wach.
Im Musikinstrumentenmuseum Lißberg findet man Originalexemplare eines Instruments, das ebenfalls eng mit der großen Auswanderung verbunden ist: die Drehleier. Museumsleiter Kurt Racky: »Das Instrument ist auf historischen Abbildungen zusammen mit sogenannten Tanzmädchen zu sehen.« Dessen leicht knarrzig-knirschende Töne klingen etwa wie »hurdy-gurdy«, so nannte man die Frauen, die zu dessen Melodien in den Saloons tanzten Hurdy-Gurdy-Girls. Diese kamen aber eher aus der Region um Butzbach und dem nahen Espa.
»Seelenfänger« nannten Dorfbewohner jene, deren Versprechungen auf ein besseres Leben sie gefolgt waren. Doch auch Betrüger gab es. Vor einem warnte ein Schreiben der Großherzoglichen Regierung, das am 17. Dezember 1825 an die Gemeinde Usenborn ging: einem »angeblichen Major Schäffer«. Es sollte: »Die verblendeten Untertanen dabei wiederholt belehren, welches traurige Schicksal die meisten durch die glänzenden Versprechungen dieses Betrügers irregeleiteten Auswanderungslustigen getroffen hat.« Dr. Conrad von Meyer macht diesem in einem Brief den Vorwurf, dass »der Major von Schäffer, jenen Leuten weit mehr verspricht, als er im Namen der Regierung zu versprechen jemals befugt und ermächtigt ist.«
Besserung der Lage
Vier Wochen nach Auflösung der Paulskirchenversammlung wurden »die Uhren in Deutschland wieder zurückgestellt«, schreibt Sabine Börchers in ihrem Buch »Routen der Freiheit«. »Die Reichsverfassung mit ihren Grundrechten aber blieb beispielhaft für eine spätere Verfassung.« Die Lage der Bevölkerung besserte sich. Die Kartoffelfäule ließ sich bekämpfen. Der Bahnbau schuf Arbeitsplätze und brachte mehr Mobilität. Zwischen 1820 und 1850 baute man in Oberhessen 24 Schulen. Die Industrialisierung schritt voran. So mancher, für den sich im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« der Traum vom besseren Leben nicht erfüllte, kehrte zurück.
