Selbst der Angeklagte ist überrascht

Gießen/Ranstadt (jwn). Der Angeklagte hüpfte vor Freude, dann wieder umarmte er seinen Bruder. Grund war das Urteil, das die 2. Strafkammer am Gießener Landgericht gegen ihn wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Ranstadt gesprochen hatte: zwei Jahre Haft auf Bewährung; kein Gefängnis.
Dabei hatte das Gericht nach einer längeren Diskussion mit Staatsanwältin und Rechtsanwalt des Angeklagten über die Höhe des Strafmaßes noch verkündet, dass es in Anbetracht der Schwere der Tat zu einer Haftstrafe zwischen zwei und drei Jahren tendiere. Staatsanwältin Beatrix Taiti hielt eine Strafe von drei Jahren für angemessen, der Verteidiger hingegen forderte schon zu diesem Zeitpunkt eine Bewährungsstrafe.
Zwei Gründe führten zum plötzlichen Wandel im Verfahren. Der 33-Jährige, Anfang der 90er Jahre mit Eltern und Geschwistern aus Russland eingewandert, war angeklagt, am 11. Juni 2022, kurz vor 7 Uhr in Ober-Mockstadt einen 49-jährigen Niddaer überfallen und mit einem Messer bedroht zu haben. Vorausgegangen waren drei wilde Tage und Nächte, in denen der Angeklagte kaum schlief, sondern nur zechte und Drogen konsumierte. In der Tatnacht sei er dann mit Freunden in einer Niddaer Gaststätte auf das spätere Opfer gestoßen. Der Mann habe in der Kneipe unentwegt mit einem Bündel Geldscheine herumwedelt und sei auf der Suche nach Kokain gewesen. Seine Freunde hätten ihn zum Überfall gedrängt, so der 33-Jährige. Aber erst auf dem Heimweg habe er sich dazu entschieden. Zugedröhnt von Kokain und Alkohol, sei er umgedreht und habe am Lieferwagen des Mannes darauf gewartet, dass auch dieser das Lokal verlässt.
Wie der Überfall genau ablaufen solle, darüber sei er sich auch dann noch nicht im Klaren gewesen, als er auf dem Parkplatz vor der Gaststätte stand. Es sollte nur nicht vor Ort sein. Also habe er sich auf die fensterlose Ladefläche des Lieferwagens gesetzt und gewartet.
Weil er keinen Plan hatte, ließ er sein späteres Opfer zunächst losfahren. Erst nach einiger Zeit klopfte er an das Fahrerhaus, um sich bemerkbar zu machen. Der Mann hielt an, stieg aus und öffnete die Tür zu Ladefläche. Was dann genau passierte, konnte im Verfahren nicht geklärt werden. Auf jeden Fall erlitt der Geschädigte zwei Verletzungen durch das Messer des Angeklagten.
»Ehrliche Reue gezeigt«
In einer ersten Verständigung einigten sich Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht auf eine Haftstrafe zwischen dreieinhalb und vier Jahren, ein vollumfängliches Geständnis vorausgesetzt. Dann aber kam die Wende: Zum einen ausgelöst durch das Verhalten des Angeklagten, der nicht nur alles gestand, sondern auch deutlich machte, aufgrund des hohen Kokain- und Alkoholkonsums sowie des enormen Schlafmangels nicht mehr er selbst gewesen zu sein. Auch das psychologische Gutachten attestierte dem Angeklagten zur Tatzeit eine verminderte Schuldfähigkeit, da er wie »im Tunnel« gehandelt habe. Obwohl sein Handeln für jeden Außenstehenden sofort erkennbar völlig irrsinnig gewesen sei, habe er nicht davon abgelassen. Er habe nicht mehr Gut und Böse unterscheiden können. Unter normalen Umständen hätte er den Plan ansonsten sofort aufgegeben. Das hätten seine Einlassung, seine Reue und auch seine spätere Sorge um das Opfer gezeigt.
Der Richter gab daraufhin bekannt, dass er das Verfahren nun unter einem anderen Aspekt sehe. Der Angeklagte habe sich in einen Vollrausch versetzt. Der Mann habe keinerlei Vorstrafen, sei vollintegriert in das Gesellschaftsleben und zeige ehrliche Reue.
Das führte zum letztlich milden Bewährungsurteil mit strengen Auflagen, einem hohen Schmerzensgeld für das Opfer und einem regelmäßigen Drogenscreening. Damit hatte selbst der Angeklagte nicht gerechnet.