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Sitzengeblieben - was nun?

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Christine Stanzel © pv

Für viele Schüler und deren Eltern ist die Nachricht natürlich ein Schock: nicht versetzt, sitzengeblieben. Christine Stanzel, Schulpsychologin am staatlichen Schulamt für den Hochtaunus- und den Wetteraukreis, spricht im Interview über Chancen des Neubeginns und gibt Ratschläge für Betroffene.

Laut Statistischem Bundesamt wiederholten im Schuljahr 2021/2022 155 800 Schüler eine Klassenstufe. Im Vorjahr wurden aufgrund der Pandemie viele Versetzungsregeln ausgesetzt, weshalb lediglich 93 100 Kinder und Jugendliche eine Ehrenrunde drehen mussten. Welche psychologischen Auswirkungen eine Nichtversetzung auf die betroffenen Schüler hat und ob es besser wäre, Kinder und Jugendliche wie im Pandemiejahr durchzuwinken, darüber hat diese Zeitung mit der Gymnasiallehrerin Christine Stanzel (57), Schulpsychologin am staatlichen Schulamt für den Hochtaunus- und den Wetteraukreis, gesprochen.

Ist eine Nichtversetzung eine pädagogisch wertvolle Lehre oder sinnlose Strafe?

Eine (Nicht-)Versetzung beinhaltet immer auch eine Prognose über eine erfolgreiche oder eben nicht erfolgreiche Teilnahme am Unterricht der nächsthöheren Jahrgangsstufe unter Berücksichtigung der Lernentwicklung der Schüler. Somit kann das Wiederholen einer Jahrgangsstufe vor möglicher weiterer Erfolglosigkeit bewahren, indem es die Chance bietet, sich noch nicht erlernten Stoff ohne weitere Überforderung anzueignen und Lücken zu schließen. Das wiederrum trägt zu Lernerfolg und -motivation bei. Die Nichtversetzung ist also ein Schutz vor anhaltendem Misserfolg und dessen negativen Auswirkungen auf die weitere Lernentwicklung und Psyche der betroffenen Schüler.

Das Wiederholen einer Jahrgangsstufe kann aber auch eine wertvolle Lehre sein, insbesondere für Kinder und Jugendliche, die über einen längeren Zeitraum nur das Notwendigste in der Schule tun und meinen, sich mit dieser minimalistischen Arbeitshaltung durchmogeln zu können. Für diese ist das Sitzenbleiben eine Rückmeldung, dass sie mit dieser Haltung nicht durchkommen und jetzt die Konsequenz dafür tragen müssen. Dies kann im Sinne eines »heilsamen Schocks« durchaus positive Auswirkungen auf ihren weiteren Bildungsweg haben.

Liegt der Nichtversetzung ein Versagen der Schüler, der Eltern oder der Schule zugrunde?

Pauschal ist das nicht zu beantworten. Wenn ein Kind eine Klasse wiederholen muss, ist das nur das Symptom eines Problems. Die Ursachen können dabei vielfältig sein: Überforderung in der Schule, mangelnde Motivation, falsches Arbeitsverhalten, Prüfungsangst, soziale Ängstlichkeit, Mobbing oder keine häusliche Unterstützung. Im Einzelfall ist also exklusiv zu eruieren, warum die Schülerin oder der Schüler die Versetzung nicht geschafft hat.

Empfinden Schüler eine Nichtversetzung in der Regel als Neubeginn oder Endstation?

Eine Nichtversetzung führt den Schülern ja die eigene Erfolglosigkeit vor Augen. Die wenigsten mögen da an einen Neubeginn denken. Wichtig für die Gefühlswelt der Kinder und Jugendlichen ist dabei die Reaktion der Eltern. Kommen diese mit dem Wiederholen der Jahrgangstufe zurecht, reflektieren mit ihrem Kind die Ursachen und überlegen sich gleichzeitig Handlungs- und Unterstützungsoptionen, damit das nächste Schuljahr erfolgreich verläuft, kommen auch die Schüler damit klar.

Reagieren Eltern auf eine Nichtversetzung eher mit Gelassenheit oder Nervosität?

Eltern reagieren unterschiedlich: in Abhängigkeit von ihrer eigenen Bildungskarriere, ihrem Erfolgs- und Leistungsanspruch, ihrem aktuellen Verhältnis zum Kind sowie ihren eigenen Belastungen. Dass Eltern auf Zeugnisnoten auch meist hochemotional reagieren, ist verständlich, denn als Erwachsene wissen wir, wie wichtig Noten für die zukünftige schulische beziehungsweise berufliche Laufbahn des Sohnes oder der Tochter sind. Aus professioneller Sicht ist aber erst einmal Gelassenheit, vor allem aber Trost für das Kind gefragt, keine Vorwürfe oder gar Strafen.

Wie kann die Schule den Schülern in dieser Lage helfen?

Noten sind das Ergebnis eines ganzen Jahres, sie werden besprochen, kommen also am Zeugnistag nicht unerwartet. Das liegt vor allem an der Kommunikation zwischen Schule und Eltern. Hier gibt die Schule rechtzeitig ein Hinweis auf eine mögliche Nichtversetzung und bespricht Fördermöglichkeiten mit den Schülern und Eltern.

Wie können Eltern ihr Kind in dieser Situation unterstützen?

Die eigene Erfolglosigkeit ist für das Kind Strafe genug. Die Schüler sollten erfahren, dass aus einer Krise keine Katastrophe wird. Schließlich haben auch nicht alle Eltern die Schule ohne Probleme geschafft. So etwas sollte man den Kindern auch mal erzählen. Es gibt sogar einige Prominente, die sich in der Vergangenheit als schlechte Schüler geoutet haben. Das zeigt, dass eine schlechte Note und vielleicht auch mal eine Ehrenrunde wenig über berufliche Erfolge und spätere Karrieren aussagen. Wichtig ist, dass die Eltern im nächsten Schritt gemeinsam mit ihren Kindern überlegen, woran es denn gelegen haben könnte, dass das Zeugnis nicht wie gewünscht ausgefallen ist, und mit ihnen gemeinsam das nächste Schuljahr angehen, sie also unterstützen.

Wie unterstützen Sie als Psychologin versetzungsgefährdete Schüler?

Das Einschalten der Schulpsychologie ist in der Regel der zweite Schritt und erfolgt ganz selten erst bei der Zeugnisausgabe. Dem gehen Hinweise durch die Lehrkräfte, schlechte Arbeiten oder ein Lernabfall voraus. Gemeinsam mit Kind und Eltern wird überlegt, welche Ursachen dem Leistungsabfall zugrunde liegen können. Schulerfolg resultiert aus unterschiedlichen Faktoren: Lernfähigkeit, Lernmotivation, Lernverhalten und Lernumfeld. Hier setzt dann die Analyse ein, woran es gelegen haben könnte: an mangelndem Lerneifer, unzureichender Unterstützung oder Überforderung. Konstante Überlastung kann erheblichen Druck verursachen. Die Erfahrung zeigt, dass Eltern hessenweit frühzeitig nach dem Halbjahreszeugnis schulpsychologische Unterstützung in Anspruch nehmen.

Wie hat sich die Pandemie auf die Lernerfolge der Schüler ausgewirkt?

Eine Studie des Teams um Professor Frey von der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zeigt, dass die Schulschließung im Frühjahr 2020 bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu ähnlichen Kompetenzverlusten führte, wie sie durch den Unterrichtsausfall während der Sommerferien entstehen. Die Landesregierung und das hessische Kultusministerium haben umfangreiche Anstrengungen unternommen, diese Verluste zu kompensieren. Mit dem Aufholprogramm »Löwenstark - der Bildungskick« erhalten die Schulen ein zweckgebundenes Budget, das sie frei verwenden können. Die Mittel können für die Kompensation coronabedingter Lernrückstände bei Schülern eingesetzt werden, aber auch für die Stärkung von Kernkompetenzen aus den Bereichen kulturelle Bildung, Sport und Soziales Lernen.

Ist nach einer Nichtversetzung ein Schulwechsel zu empfehlen oder ist davon abzuraten?

Ein Schulwechsel ist nach einer Nichtversetzung nicht anzuraten, obwohl es auch hier auf den Einzelfall ankommt. Stellt sich etwa heraus, dass das Kind aufgrund von Mobbing keine Leistung erbringen konnte, mag ein Tapetenwechsel durchaus sinnvoll sein. Es kann auch sein, dass die Schülerin oder der Schüler durch eine nicht adäquate Schulform generell überfordert ist. So kann ein Wechsel von einem Gymnasium auf eine Realschule entlastend wirken und eine gute Chance für einen erfolgreichen Neuanfang sein.

Was glauben Sie: Werden Schüler in Deutschland ausreichend psychologisch betreut?

Insgesamt ist die Situation in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. In Hessen wurden seit dem Doppelhaushalt 2018/2019 14 neue Planstellen für die Schulpsychologie geschaffen, davon sechs Stellen im Haushaltsjahr 2022, so dass es aktuell insgesamt 120 Planstellen gibt. Hinzu kommen 15 befristete schulpsychologische Beschäftigungsmöglichkeiten an den staatlichen Schulämtern im Programm »Löwenstark - der Bildungskick«.

Das Angebot fördert die Resilienz und psychische Gesundheit von Schülern. Schulpsychologen führen an den Schulen unter anderem die Programme - »Safe Place« und »psychische Gesundheit und Schule« - mit Kindern und Jugendlichen durch. Darüber hinaus haben Schulpsychologen in Hessen als Teil eines umfassenden Beratungsprogramms erstmals in diesem Schuljahr Videosprechstunden für Schüler der weiterführenden Schulen angeboten. Nach einem Kurzvortrag gab es im Anschluss in Vieraugengesprächen die Möglichkeit, über Prüfungsangst und Sorgen sowie Probleme in Zusammenhang mit der Schule zu sprechen. Nach sehr positiver Resonanz werden diese Videosprechstunden im kommenden Schuljahr fortgesetzt.

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»Die eigene Erfolglosigkeit ist für das Kind Strafe genug. Die Schüler sollten erfahren, dass aus einer Krise keine Katastrophe wird«, sagt Schulpsychologin Christine Stanzel im Interview. Schlechte Noten und die Nichtversetzung sagen nichts über berufliche Erfolge und spätere Karrieren aus. SYMBOL © pv

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