Universität Gießen will "sich einmischen"
GIESSEN - (hh). In der Türkei fürchten Wissenschaftler um Leib und Leben. In den USA ersetzen Bauchgefühl und Intuition zunehmend Fakten und Expertise. In Ungarn droht der angesehenen privaten Zentraleuropäischen Universität dank einer Gesetzesänderung die Schließung. Und in Deutschland zieht die AfD Forschungsergebnisse immer wieder pauschal in Zweifel.
"Wir leben in einer Zeit, in der wir die Zunahme autoritärer Bewegungen beobachten müssen", sagt Unipräsident Joybrato Mukherjee. Einer Zeit, in der vermehrt einfache und vereinfachende Antworten auf drängende Fragen gegeben werden. Und einer Zeit, in der die Wissenschaftsfreiheit in echter Gefahr ist. Deshalb möchte die Justus-Liebig-Universität (JLU) eine Plattform schaffen, die es ermöglicht, dass sich Menschen informieren und auch ihre Positionen überdenken können: mit der Veranstaltungsreihe "Die autoritäre Welle im Westen: USA, Frankreich, Deutschland. Wie stark ist der Nationalismus?". Die Federführung dafür liegt bei dem Politikwissenschaftler Prof. Claus Leggewie.
"Intellektuelle Zentren"
"Wenn der triviale Unterschied zwischen Fakten und der Interpretation von Fakten unter die Räder kommt, müssen wir uns einmischen", betont der JLU-Präsident bei der Vorstellung des Programms. Schließlich seien die Universitäten die "intellektuellen Zentren des Landes" und müssten einen öffentlichen Diskurs über "Fake-News", populistische Propaganda und "Experten-Bashing" anbieten. Leggewie sieht das gleichzeitig auch als "Gesprächsangebot für die AfD selbst". Dabei wolle die JLU nicht Partei ergreifen oder gar Wahlkampf machen. Es sei vielmehr wichtig, die in der Gesellschaft bestehenden Gräben "etwas weniger tief zu machen". Der Politikwissenschaftler räumt dabei ein, dass "wir eine Art Weckruf erfahren". Denn zu lange seien die Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump und der Brexit belächelt und als unvorstellbar abgetan worden. Die Wissenschaft habe die Entwicklung gesehen, sich aber nicht analytisch damit auseinandergesetzt. "Wir müssen das stärker an uns heranlassen."
Entschiedene Zeichen müssten zudem gegen die massive Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit gesetzt werden. "Wir müssen deutlicher machen, was wir hier tun, und was der Nutzen für die Gesellschaft ist." Mukherjee verweist dabei auf den geplanten "Science March" am 22. April. An diesem Tag werden Menschen weltweit auf die Straße gehen, um dafür zu demonstrieren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage des gesellschaftlichen Diskurses nicht verhandelbar sind. Auch in Deutschland sind zahlreiche Aktionen geplant. Mit Gießener Beteiligung auch in Frankfurt, so der JLU-Präsident. Und Leggewie erinnert an die sonntäglichen "Pulse of Europe"-Demonstrationen, die Beleg für eine "Re-Politisierung" seien.
Besonderes Augenmerk richtet die JLU auf ihre Kooperationen mit Hochschulen in der Türkei und den Vereinigten Staaten. "Für viele Kollegen in der Türkei ist die Partnerschaft mit der JLU die einzige Plattform für internationalen Austausch." Aus diesem Grund sei es wichtig - "innerhalb von roten Linien" - die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Durch das Auslaufen etlicher Förderprogramme in den USA "gehen den Kollegen das Geld und das Licht aus", ergänzt Leggewie. Deshalb müsse Deutschland auch vermehrt bedrohte Wissenschaftler aufnehmen. Und wenn etwa die Klimaforschung in den USA nicht mehr gefördert werde, "muss das in Europa kompensiert werden". Wenngleich auch die EU-Forschungspolitik durch den Brexit auseinandergerissen werde. "Wir dürfen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange beobachten, was zwischen Brüssel und London passiert, sondern wir müssen bilaterale Übergangsszenarien besprechen", fordert Mukherjee. Leggewie rät zudem, dass Wissenschaft angesichts der autoritären Welle "das machen muss, was sie am besten kann": Weiter forschen und immer wieder Fakten auf den Tisch legen.