Was die Scherben erzählen

In der Nähe des Glaubergs wird wieder gegraben. Ein Team aus europäischen Archäologen geht Hinweisen nach, dass der Enzheimer Kopf in vorchristlicher Zeit besiedelt gewesen sein könnte.
Mit leuchtenden Augen kommt ein junger Mann durch den sonnendurchfluteten Wald gelaufen. Der Student präsentiert einen unscheinbaren Gegenstand, den er soeben der Erde abgerungen hat. Grabungsleiter Axel Posluschny dreht das kleine Stück, nicht viel größer als ein Daumennagel, prüfend in der Hand. »Vermutlich die Spitze einer geschliffenen Steinaxt«, sagt der promovierte Archäologe. »Sieht aus, als wäre sie abgebrochen. Ein schönes Stück.«
Posluschny ist Forschungsleiter der Keltenwelt am Glauberg. Er leitet die archäologischen Grabungen auf dem Enzheimer Kopf, einer bewaldeten Hügelkuppe in unmittelbarer Nähe des weithin berühmten Keltenmuseums. Hier, so vermutet er, könnten vor mehreren tausend Jahren Menschen gelebt und geliebt haben. Wildschweine hatten für erste Indizien gesorgt: Wo sie die Erde aufgewühlt hatten, waren aufmerksame Spaziergänger auf Keramikscherben aufmerksam geworden und hatten die Forscher dadurch animiert, die diesjährige Sommerakademie hier durchzuführen.
350 Scherben pro Tag
Dafür kommen alljährlich rund 25 Studierende der Archäologie aus benachbarten Universitäten und dem europäischen Ausland nach Mittelhessen. Gemeinsam schlagen sie sich zwei Septemberwochen lang durchs Unterholz, trotzen Mücken und Hitze und sammeln erste Grabungserfahrungen.
So auch Tilde aus Kopenhagen. Im Schneidersitz hat die 22-Jährige auf der Erde Platz genommen, im rechten Ohr einen Kopfhörer, in der Hand eine kleine Kelle, das wichtigste Werkzeug der Archäologen. Behutsam trägt sie die Erde ab, Schicht um Schicht. Zwei Pfeilspitzen hat sie bereits gefunden, erzählt sie stolz, vermutlich aus der Jungsteinzeit (5000 v. Chr.). Hinter ihr hat George aus Winchester zwischen den Bäumen Stellung bezogen. Konzentriert blickt er durch das Nivelliergerät. Seine Aufgabe besteht darin, das Gelände zu vermessen und die Fundstellen zu dokumentieren. Nie werde er die Erfahrungen auf dem Enzheimer Kopf vergessen, sagt der 21-Jährige begeistert.
An sechs Stellen wird gegraben. Ein einziges dieser Grabungsfelder von wenigen Quadratmetern gibt pro Tag bis zu 350 Keramikscherben preis, und das bereits unmittelbar unter der Erdoberfläche. Die hohe Zahl an Funden begeistert und motiviert den archäologischen Nachwuchs. Die Stimmung ist gut, Witze fliegen hin und her.
Eines der schönsten Fundstücke des Tages ist eine Scherbe mit auffälligen Ausformungen am oberen Rand. Posluschny datiert sie, wie die meisten Funde, auf die sogenannte Urnenfelderkultur. In der späten Bronzezeit also hat ein Mensch hier seine Fingerkuppen in die weiche Masse gedrückt, um ein Gefäß nach der neusten Mode zu verzieren.
Roland Vissel von der Uni im niederländischen Deventer zeigt auf den Boden, wo die Erde ein wenig dunkler, komprimierter aussieht als in der Umgebung. Das geschulte Auge ist gefragt. »Hier könnte ein Feuer gebrannt und die Erde verziegelt haben«, vermutet Posluschny. Wie so oft steht am Anfang eine Hypothese. Die Archäologen werden es sich genauer ansehen.
Hier wurde Garn gesponnen
Während Posluschny noch erklärt, wird erneut ein Fund gemeldet: Eine Spinnwirtel, bereits die fünfte oder sechste in wenigen Tagen. Ein starkes Indiz dafür, dass hier einst Garn gesponnen wurde. Sie kommt wie jedes Fundstück in einen Gefrierbeutel, der beschriftet wird und dann ins Basislager wandert, wo Alex und Daniela jedes Fundstück gewissenhaft mit Zahnbürste und Wasser vom Schmutz der Jahrhunderte befreien.
Im Labor werden sich die Forscher die Stücke noch einmal ganz genau ansehen und danach befragen, was sie über unsere Vorfahren preisgeben. »Es wird unsere Aufgabe sein, auf Grundlage der Fakten eine Geschichte zu erzählen«, sagt Posluschny.
Diese Geschichte beginnt sich bereits abzuzeichnen. Sie wird von einem Dorf erzählen, das hier vor rund 3000 Jahren gestanden hat, noch bevor die Kelten auf dem Glauberg einzogen. Es dürften Fachwerkhäuser gewesen sein, denen aus jüngerer Vergangenheit nicht unähnlich, nur ohne gemauertes Fundament. Und diese Siedlung scheint größer gewesen zu sein als gedacht.
»Wir haben viel mehr gefunden, als wir gehofft hatten, der Erkenntnisgewinn ist enorm.« Das freut Posluschny nicht zuletzt für die Studierenden, die selbst das Zuschaufeln der Löcher noch mit Hingabe erledigen. Möglicherweise werden die Relikte, die Tilde, George oder Alex hier aus dem Boden geholt haben, einmal im Museum zu bewundern sein. Ihren Beitrag zur großen Erzählung der Menschheitsgeschichte leisten sie allemal.