Wie das Leben in der Wetterau so spielt

Bei Ingrid Reifschneider aus Wöllstadt werden Erinnerungen wach, wenn sie die Spielzeuge Spitz, Seppel und Molly betrachtet. Sie haben einen Weltkrieg überstanden und zueinander gefunden haben.
Ingrid Reifschneider aus Wöllstadt erinnert sich gerne an ihre Kindheit zurück. Sie ist 1939 geboren und erlebt damit Nazi-Deutschland als- Kleinkind. Dass sie in einen autoritären Staat geborenen wurde, das spielte für sie als unschuldiges Kind natürlich noch keine Rolle. »Bilder aus den Kinderjahren oder der Jugendzeit werde ich nie vergessen, und sie leben in mir weiter«, sagt die 84-Jährige. »Davon erzähle ich genauso gerne wie von den Erinnerungen mit meinen eigenen Kindern - und denen mit meinen Enkeln.« Der WZ stellte sie nicht nur ihre eigenen Gefährten ihrer Kindheit vor, den Stoffhund Spitz und die Puppe Seppel, sondern auch den ihres Mannes, den Stoffhund Molly.
Ihre Enkel hätten ihr über den Tod ihres Mannes hinweg geholfen, sagt die Wöllstädterin. Sich um die Kleinen zu kümmern, habe sie ablenken können. Zusammen mit ihnen erinnert sie sich an ihre eigene Kindheit. »Besonders, wenn ich die angesammelten Spielsachen anschaue und mein Blick auf zwei alte und zerzauste Gesellen fällt.« Damit meint sie Molly und Spitz, die trotz ihres stolzen Alters von über 80 und 90 Jahren erstaunlich gut aussehen. Die beiden würden schon seit langer Zeit einträchtig beieinander stehen. »Ein bisschen so, als träumten sie von früher, als ein kleiner Junge in Oberhessen und ein kleines Mädchen am Main jeweils mit ihnen spielten«, sagt Ingrid Reifschneider und lächelt nachdenklich.
Kleinkind im Nationalsozialismus
Anfang der 1930er Jahre sei nämlich Molly, der kleine Stoffhund, zum Aufpasser auserwählt worden. Er war der beste Freund eines etwa zweijährigen gelockten Blondschopfes - Ingrid Reifschneiders späterer Ehemann. Sie hat sogar noch ein Kindheitsfoto ihres Mannes von circa 1932/33, auf dem er auf einem Schaukelpferd mit seinem pelzigen Kumpel zu sehen ist.
»Molly hat Eisenräder und konnte gut nachgezogen werden, wenn die Mutter mit ihrem Buben zum Einkaufen ging«, teilt Ingrid Reifschneider die Erinnerungen ihres verstorbenen Mannes. »Vom Maxbau nahe dem Assenheimer Schloss bis zum Metzger Koch war es nicht weit. Beim Koche Lui gab es immer ein Stück Fleischwurst. Das ließ sich der kleine Junge natürlich nicht entgehen.«
Etwa zehn Jahre später hat dann die noch sehr kleine Ingrid liebevoll einen Stoffhund namens Spitz im Arm gehalten. Durch ihre Tante aus Giengen, der Heimat der Steifftiere, kam ab und zu noch ein weiteres Tierchen dazu. »Spitz habe ich aber wohl besonders geliebt«, sagt die 84-Jährige. Zum Glück für Spitz, denn er und auch Seppel, eine Schildkrötpuppe, wurden im Januar 1944, als der Einmarsch der Alliierten absehbar wurde, bei der Evakuierung aus Offenbach nach Borsdorf mitgenommen. »Das war kein allzu weiter Weg. So konnten die beiden überleben, als am 18. März 1944 Bomben der amerikanischen Luftwaffe das Haus in Offenbach zerstörten.« Eine andere liebe Tante habe später noch eine Trachtenhose mit Hemd für Seppel genäht. Spitz und Seppel können als echte Glücksbringer bezeichnet werden.
Wie das Leben so spielt, begegneten sich Ende der 1950er Jahre der mittlerweile junge Heinrich und die junge Ingrid. Sie verliebten sich und heirateten schließlich. In den 1960er Jahren kamen zwei kleine Mädchen zur Welt und auch die neue Generation kümmerte sich liebevoll um Molly .die sich noch immer super zum Nachziehen eignete. Molly und Spitz spendeten den beiden Kindern Freude, wie einst ihren Eltern. Auch Seppel wurde nicht vergessen: Er wurde in den Puppenwagen oder den Leiterwagen vom Opa gesetzt. »Gut war auch, dass es sowas wie Puppenkliniken gab, so konnte eine Beinamputation bei Seppel verhindert werden«, erzählt Ingrid Reifschneider. Er stehe also nach wie vor mit seinen beiden Beinen fest im Leben - mit Pflaster am Haaransatz. Ein bisschen sieht man ihm sein Alter eben doch an.
Spitz, Seppel und Molly heute
Längst sind die beiden Töchter von Ingrid Reifschneider erwachsene Frauen, haben eigene Familien gegründet und wiederum Kinder großgezogen. Auch ihre Kinder hatten in ihr Spiel Molly, Spitz und Seppel einbezogen. Opa Heinrich, einst der blonde Junge auf dem Schaukelpferd, brachte seine Molly 2007 zur 100-Jahr-Feier der Kita »Schatzkiste« in Assenheim mit, als er dort seine Enkelkinder besuchte. Die alten Spiel-Gesellen wurden von den eigenen Kindern und Enkeln gut behandelt. Sie haben trotz Seppels Verletzungen und des abgenutzten und struppigen Fells der beiden Stoffhunde immerhin 90 und 80 Jahre überlebt. Sie werden weiterhin in der Familie in Ehren gehalten.