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"Yo, wir schaffen das"

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Von: Judith Seipel

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Auch wir haben nach jenem 31. August 2015 in der Redaktion diskutiert. War die Bundeskanzlerin blauäugig, hat sie die Vorbehalte und die Verunsicherung in der Gesellschaft angesichts Abertausender, die an den Grenzen Europas Einlass begehrten, ignoriert, als sie auch Tage später noch bekräftigte "Wir schaffen das"? Oder hat sie, endlich und unmissverständlich, an Mitgefühl und Nächstenliebe erinnert, die Werte des christlich geprägten Abendlandes, das die Pegida-Demonstranten schon seit Monaten vorgaben zu verteidigen?

*Nun also jährt sich der Tag, an dem dieser Satz in einer Bundespressekonferenz fiel, zum fünften Mal. Und noch immer ist er umstritten. Der Satz hat nicht nur Hilfe und Unterstützung für Flüchtlinge mobilisiert, er hat auch die rechte Bewegung stark gemacht. Aber: Gab es eine Alternative zum Öffnen der Grenzen, zum Helfen? So, wie "Wir schaffen das" sich ins kollektive Gedächtnis gegraben hat, lässt uns das Bild des ertrunkenen syrischen Jungen Alan Kurdi nicht los, das nur zwei Tage später um die Welt ging und zum Symbol des Flüchtlingsdramas wurde. *Die Antwort auf die Frage, ob wir das schaffen (oder was wir vielleicht sogar schon geschafft haben), fällt unterschiedlich aus, ist abhängig von persönlichen Erfahrungen und manchmal auch ambivalent. Der Helfersdorfer Heinz Eckert, der sich um viele Flüchtlinge in seiner Gemeinde gekümmert hat, zitiert dazu einen früheren Kefenröder Bürgermeister: "Das ist alles Menschenmachwerk." Will sagen: Immer und überall enttäuschen Menschen, scheitern Pläne und verpufft jeglicher gute Wille. So ist das Leben. Vom Helfen sollte das nicht abhalten.*Am 1. September 2015, einen Tag nach der denkwürdigen Pressekonferenz der Kanzlerin, hat Fazelrabi Oriakhel, ein damals 22 Jahre alter Flüchtling aus Afghanistan, bei der Firma Lupp in Harb eine Ausbildung zum Maurer begonnen. Während eines Praktikums war man im Unternehmen auf den jungen Mann aufmerksam geworden und bot ihm eine Perspektive an. Was ist aus ihm geworden? "Er hat seine Ausbildung erfolgreich bei uns abgeschlossen", sagt Gesellschafterin Sina Lupp. "Wir hätten den jungen Mann gerne übernommen, er hätte beispielsweise eine Polierkarriere bei Lupp starten können." Er habe jedoch das Unternehmen verlassen und geht weiter seinen Weg. "Soweit wir wissen, studiert er mittlerweile an der THM in Gießen", so Sina Lupp. *Ja, sicher, eine besondere Geschichte. Aber kein Einzelfall. Der aus Pakistan geflohene Ashan Ali, inzwischen in Gedern nicht nur untergekommen, sondern dort daheim, hat im vergangenen Jahr seine Ausbildung zum Dachdecker als Innungsbester im Wetteraukreis abgeschlossen - und das, obwohl er nie einen Deutschkurs besucht hat. Viele Flüchtlinge haben inzwischen Arbeit gefunden. Sie erweisen sich als zuverlässig, fleißig und freundlich und bestreiten ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft.*Freilich, es gibt auch die anderen, die mit Verbindlichkeit und Regelmäßigkeit nicht klarkommen, die die Sprache noch immer nicht beherrschen und eine mit viel Zuversicht und breiter Unterstützung begonnene Ausbildung abrupt abbrechen oder den neuen Job von einem auf den anderen Tag hinschmeißen. Zurück bleiben verärgerte Handwerksmeister, die auf einen Doppelsieg gehofft hatten: Ich gebe dir eine Perspektive und du trägst dazu bei, dass mein Betrieb eine Zukunft hat. *Elisabeth Schick, Sozialarbeiterin der Stadt Gedern, die in den vergangenen Jahren einer Reihe von Flüchtlingen zu Lohn und Brot verholfen hat, mahnt zu Geduld: "Wir wissen nicht, was die Leute erlebt haben. Manche brauchen Zeit zum Ankommen und schaffen es erst spät, Pläne für ihr neues Leben zu entwickeln."Die Zeichentrickserie "Bob, der Baumeister", die schon Ende der 1990er ins deutsche Fernsehen kam, kennt auf die Frage "Können wir das schaffen?" übrigens nur eine Antwort: "Yo, wir schaffen das". Schönes Wochenende.

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