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Zeitreise mit dem Akkordeon

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Von: Myriam Lenz

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NIDDA - "Ich bin so ein Typ, Du nimmst mich, wirfst mich irgendwo rein, und dann läuft es", sagt Harald Weiner. Ganz einfach. Als ob man einen Plätzchenteig mischt. Die Zutaten sind: langjährige Selbstständigkeit und damit die Gabe, sich immer wieder neu zu erfinden, dazu eine Prise heiteren Gemüts und eine gute Portion Erfahrung, sowohl süße als auch bittere.

Aber vor allem: die Liebe zur Musik. Die lässt er nun im Altenheim erklingen.

Die Musik begleitet den 59-Jährigen sein ganzes Leben. Schon als Schulbub hat der im Westfälischen Geborene immer Geld in der Hosentasche, das er sich mit Auftritten verdient. Während seiner Lehre steht er mit seinem Chef gemeinsam auf der Bühne. Er spielt Akkordeon und ab und zu Keyboard. Das ändert sich auch nicht während des Studiums oder im Beruf als Diplom-Ingenieur im Außendienst. Er tritt mit Dieter Görtler als Hessen-Duo in der HR-Sendung "Handkäs mit Musik" auf. Irgendwann wird die Musik zu seinem Hauptberuf. Gemeinsam mit seiner Frau Anja hat er sich dem Schlager verschrieben. Der sei ehrlicher als die zusammengemischte Mickey-Mouse-Musik. Das Duo absolviert jährlich über 100 Auftritte, vielfach in Seniorenheimen. Zudem ist er seit zehn Jahren für das Kulturmanagement der Stadt Nidda tätig, organisiert Veranstaltungen in Bad Salzhausen mit, moderiert Konzerte, steuert die Event-Technik.

Im Februar kündigt sich das Unheil an. Zunächst scheint es noch weit weg, dann wird klar: Corona wird alles auf den Kopf stellen. Es kommt eine Stornierung nach der anderen. Innerhalb weniger Tage bricht ein Umsatz von rund 5000 Euro für die nächsten Monate weg. Am 3. März sitzt Weiner in einem Büro eines Altenheims. Zwei Tage später beginnt er dort, hilft bei der Pflege, betreut und bringt die Musik zu den Senioren. Er lässt immer eine CD mit Schlagern laufen, jeden Freitag ist festes Musikprogramm. Wenn er auf seinem Akkordeon die Titel "Marina" oder "Capri-Fischer" spielt, stimmen alle mit ein, und das textsicher. Die Töne gehen vom Ohr direkt in den Bauch. Ob freudig-laut oder leise-zurückhaltend: Die Klänge bringen Momente des Glücks und die Erinnerungen an unbeschwerte Tage.

Einmal wurde er gefragt, ob er es sich zutrauen würde, in einer geschlossenen Gruppe mit Hochdementen zu spielen. "Die Bewohner sagen die ganze Woche nichts, dann hören sie die Musik und singen auf einmal mit." Harald Weiner erzählt von einem älteren Mann, der auf der Station bereits mehrere Jahre sein Leben quasi schweigend in seinem Fernsehsessel verbringt. Als der Musiker auf dem Akkordeon ein bestimmtes Lied anstimmt, steht der Mann plötzlich beglückt auf und beginnt, zum Takt auf der Stelle zu trippeln. Die Pfleger trauen ihren Augen nicht, Harald Weiner kommen die Tränen. Die Musik hat den Senior für eine Titellänge aus seinem Kosmos in die Wirklichkeit geholt. Momente wie dieser zeigen ihm, dass er am richtigen Platz ist. Er ist ein Entertainer, die Schlager-Melodien benötigen keine Übersetzung. Die Tätigkeit mit den Alten sei eine Schnittmenge von allem, was er bisher gemacht habe, erzählt er.

Für die Bewohner bedeute Corona Gefängnis mit Hofgang. Die Alten dürften im Moment nur maximal eine Stunde raus. Weiner nimmt am Leben der Senioren teil, sie erzählen ihm längst Geschehenes. "Da ist alles dabei", sagt er, und es sei manchmal schwer, damit fertig zu werden. Die Nähe wird in diesen Momenten zur Herausforderung.

Viele der Damen seien in ihn verliebt, bekennt er lachend, sie genießen die Zuwendung, seine Herzlichkeit. "Es tut mir weh, wenn ich morgens ins Heim komme und dann hängt dort ein Zettel 'Frau M. ist gestorben'." Der Tod hat für ihn eine neue Dimension erhalten, heute hat er weniger Angst davor. Denn er weiß, dass die Menschen es durch die Palliativ-Medizin in den letzten Stunden etwas leichter haben.

Dennoch schwebt die Angst vor Covid-19 über allem. "Was passiert, wenn wir einen Corona-Fall erleben und wir uns infizieren? Wenn wir, die für sie vertrauten Personen, daheim bleiben müssen, wer kümmert sich dann um die Alten?"

Oft erlebt er auch, wie Senioren, die keinen Kontakt zu ihren Kindern haben, täglich weinen. "Schickt ihnen Post, ruft sie an, besucht sie, wenn möglich", appelliert er an die Angehörigen. Auch wenn es mal zu Auseinandersetzungen gekommen sei, das Verzeihen und die Unterstützung der Eltern seien wichtiger als alles andere.

Für Weiner ist klar: Auch nach Corona wird er weiterhin im Altersheim arbeiten. Es ist ein krisensicherer Job. Zum anderen fühlt er sich hier mit seiner geliebten Musik genau an der richtigen Stelle. So als ob er sich täglich mit den Senioren ein selbst gebackenes Plätzchen teilt.

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