Zeitumstellung - oder die Stunde der abgerissenen Kronen

Die Nacht von Samstag auf Sonntag ist für die Familie Bernhard in Ober-Florstadt nicht nur der Moment der Zeitumstellung von der Sommer- auf die Winterzeit, sondern auch »die große Stunde der abgerissenen Kronen«.
Der gelernte Uhrmachermeister Hendrik Bernhard hat die Leidenschaft für Uhren jeder Größe und Funktion von seinen Eltern übernommen. Mittlerweile führt er seine Werkstatt »Der Zeitgeist« in Ober-Florstadt, unterstützt von seinem Vater Lothar Bernhard, der das Handwerk auf hohem Niveau als Hobby betreibt, und von seiner Mutter Sybille Bernhard, die vor allem für die Recherche nach besonderen Uhren und selten gewordenen Ersatzteilen zuständig ist. Das Familienanwesen an der Bundesstraße 275 in Richtung Staden fällt vielen, die daran vorbeifahren, durch die Vielzahl unterschiedlicher Außenuhren auf und trägt nicht zu Unrecht auch den Titel »Das Haus der 1000 Uhren«.
Die heutige Nacht von Samstag auf Sonntag ist für die Familie Bernhard nicht nur der Moment der Zeitumstellung von der Sommer- auf die Winterzeit, sondern auch »die große Stunde der abgerissenen Kronen«. Was in der Fachsprache der Uhrmacher bedeutet: »Die Leute drehen ihre Uhren zum Teil mit Gewalt eine Stunde zurück und brechen dabei die sogenannte Krone an der Stellwelle ab, das gezackte Rädchen, das aus dem Gehäuse herausragt und mit dem man Uhren aufziehen und Zeiger verstellen kann«, erläutert Hendrik Bernhard.
Im und am Wohngebäude der Bernhards, in der Werkstatt und in der Scheune finden sich rund 1000 liebevoll gesammelte, oft aufwendig reparierte und restaurierte Zeitmesser, es tickt allerorten, zur vollen Stunde ertönen tiefe Glockenschläge und zierliche Melodien aus allen Zimmern.
Uhren sind wie Persönlichkeiten
»Die Uhren sind für uns wie Kinder, wie kleine Persönlichkeiten, von denen jede ihre eigene Geschichte mitbringt«, sagt Sybille Bernhard. Eine Führung, wie man sie ab dem Frühjahr wieder anbieten wird, dauert mehr als zwei Stunden, zumal sich beständig etwas ändert, fertige Werkstücke das Haus verlassen und Neuerwerbungen hinzukommen. Aktuell haben Bernhards eine Außenuhr befestigt, die rückwärts läuft und die Passanten verwirrt.
»So lange sich die Zeiger wie bei dieser Ausnahmeuhr von allein rückwärts drehen, ist alles in Ordnung«, sagen Vater und Sohn. »Nur wenn man in der kommenden Nacht versucht, den Lauf der Zeit quasi mit Gewalt umzudrehen, kann das schiefgehen, zumal wenn die Uhr über Zusatzfunktionen wie eine Datumsangabe verfügt.« Am Montag häufen sich dann die besagten abgerissenen Kronen im Hause »Zeitgeist«.
Besser sei es, die Zeiger 23 Stunden vorzustellen, empfehlen die Bernhards, die ihre eigenen Uhren heute Nacht und den ganzen morgigen Tag über im Auge behalten und, wo es nötig ist, von Hand nachjustieren.
Die Phänomene Zeit und ihre Messung faszinieren die Familie seit rund 40 Jahren. Lothar Bernhard fing bei einem Frankfurter Großuhrenmacher Feuer und reparierte seine erste Standuhr. Standuhren sowie die immer komplexere Elektrik sind bis heute seine Spezialität, mit Sohn Hendrik als Uhrmachermeister bildet er ein perfektes Team, das mit Hingabe, Präzision und Einfallsreichtum arbeitet, auch Aufträge aus Städten und Gemeinden, Schulen und Feuerwehrstützpunkten erhält, um die dortigen öffentlichen Uhren zu reparieren oder zu warten. Derzeit steht die Restauration einer Großuhr vom Schweizer Platz in Frankfurt-Sachsenhausen an.
»Die Zeitumstellung ist ja kein Phänomen unserer Tage«, stellen die Bernhards fest. »Eine einheitliche Zeit gab es im damaligen Kaiserreich überhaupt erst seit 1893, fast jede Stadt hatte zuvor eine eigene Uhrzeit, sodass man auf Reisen beständig die Zeiger verstellen musste.«
Unterschiedliche Meinungen
Ein untragbarer Zustand für das Generieren von Eisenbahnfahrplänen und die Planung von Arbeits- und Geschäftszeiten in der Wirtschaft. Während der beiden Weltkriege von 1916 bis 1919 und von 1940 bis 1949 wurde bereits eine Sommerzeit eingeführt, um das Tageslicht in Landwirtschaft und Rüstungsindustrie besser nutzen zu können. »Zwischen 1950 und 1979 haben wir in Deutschland nicht an den Uhren gedreht - bis zur Ölkrise und dem Gedanken, man könne durch die Einführung einer Sommerzeit Energie sparen«, erläutern die Bernhards. Zum Thema einer endgültigen Festlegung auf Sommer- oder Winterzeit gibt es im Hause »Zeitgeist«, ebenso wie EU-weit, unterschiedliche Meinungen.
Einig ist man sich darin, der Faszination der Uhren und der Zeit treu zu bleiben, durch die man mit Uhrenfans im In- und Ausland vernetzt ist. VON INGE SCHNEIDER