Zwischen Leistungsdruck und Selbstzweifel

Einblicke in eine Welt körperlicher Höchstleistungen, von Grazie und Anmut, aber auch des Leistungsdrucks und der Selbstzweifel gab Spitzensportlerin Kim Bui in Gedern bei Vorstellung ihrer Biografie.
Gedern (em). Der Wappensaal des Gederner Schlosses hat schon viele kulturelle Veranstaltungen gesehen. Taschentuchpäckchen flogen aber bisher noch nicht durch den Raum. Bis jetzt. Denn jetzt hatte der Gederner Matthias Diehl Spitzenturnerin Kim Bui eingeladen. Ihn hatte ein Buch absolut gepackt: »45 Sekunden - Kim Bui«. Und so ließ er nicht locker, bis er die Sportlerin, den Autor ihrer Biografie, Andreas Matlé, und hr-Sportredakteurin Martina Knief als Moderatorin nach Gedern holen konnte.
Weit über 100 Besuchern berichtete Diehl vom »Büdingen belesen«-Abend, bei dem er das Trio erlebt hatte: »Diese junge Frau hat bei drei Olympischen Spielen vor den Augen der ganzen Welt geturnt! Ein Spiegel-Bestseller entstand aus dem Bericht! Ich bin begeistert von Menschen, die Leistung bringen.«
Emotionale und fesselnde Lektüre
Wobei das Buch auch offen der hohen Preis des Spitzensports beschreibt: Leistungsdruck, Schmerzen, verplantes Leben, psychische Krisen. Er habe mehrfach in Büdingen zum Taschentuch greifen müssen, bekannte Diehl und ließ daher in Gedern fürsorglich die Tempopäckchen fliegen.
»Selten habe ich den Wappensaal so voll erlebt«, betonte Bürgermeister Guido Kempel und dankte Matthias Diehl. Als dieser ihm das Buch übergab, habe er sich spontan festgelesen und die ersten 22 Seiten förmlich eingesogen: »Und das in meiner Dienstzeit!«
Den Weg von der ersten Kontaktaufnahme bis zum fertigen Buch schilderten Bui und Matlé im Gespräch mit Knief. Dass die Moderatorin, selbst Handballerin, quer durch die sportlichen Disziplinen Höhen und Tiefen kennt, brachte eine selbstverständliche Nähe ins Gespräch.
Bui las aus dem zweiten Kapitel »Woher? Wohin?«, eine fast tragikomische Episode mit einem türkischstämmigen Taxifahrer, der ihr einfach nicht abnehmen wollte, dass sie, die Tochter einer vietnamesischen Mutter und eines Vaters aus Laos, Deutsche sei und sich auch so fühle. Bui: »Ich habe nichts dagegen, wenn jemand etwas über meine Herkunft wissen will.« Vorausgesetzt, er frage aus ehrlichem Interesse am Gegenüber, nicht aufgrund von Ressentiments.
Buis Eltern kamen als »Boat people« nach Deutschland, mit der Erfahrung eines grausamen Kriegs hinter sich, mit buchstäblich leeren Händen und der Hoffnung, ein neues Leben aufbauen zu können. Ähnlich wie in vielen deutschen Familien der Nachkriegszeit erlebte Bui fürsorgliche, aber »schweigende« Eltern. Ein absolutes Tabu lag über dem, was die Eltern in Krieg und Flucht erlitten hatten. Erst als Erwachsene konnte die Tochter dunkle Zeiten der Familiengeschichte erfragen.
Quälendes Gefühl: Ich bin nicht genug
Ob ihre Kindheit sie gewissermaßen für den Leistungssport prägte? Sie spricht von der »buddhistischen Kultur, einerseits auf Ausgleich und Mäßigung bedacht, andererseits mit Fleiß, Respekt, Disziplin und Ordnung als Leitplanken«. Das vermittelte ihr Willensstärke, aber auch das quälende Gefühl: »Ich bin nicht genug«. Das habe sie lange Jahre verfolgt und ließ sie zu Wachs in den Händen leistungsbesessener Trainerinnen werden. Nur langsam konnte sie sich davon lösen. Sie spricht von einer »dritten Kultur«, die sie für sich entwickeln will, in der asiatische wie deutsche Prägungen zu etwas gleichwertig Ganzem verschmelzen.
Andreas Matlé gelang es, Kim Buis mündliche Erzählung authentisch einzufangen, die Sprache ist locker und anschaulich.
Selbstbewusst, offen und frei von Starallüren gibt Bui sich auch an diesem Abend im Gespräch. Sportlich interessierte Leser finden im Buch viele Erlebnisberichte von Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen, können sich mit Buis grundsätzlichen Überlegungen zum Leistungssport auseinandersetzen. Aber das Buch ist viel mehr, nicht umsonst steht da der Untertitel »Meine Leidenschaft fürs Turnen - und warum es nicht alles im Leben ist«. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die im schwierigen Umfeld des Leistungssports eigenständige Identität entwickelt und lernt, für sich und andere Respekt einzufordern.