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Putin droht mit Atomwaffen: Experte erklärt, was „Alarmbereitschaft“ bedeutet - und wie groß die Gefahr ist

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Wie weit geht Putin? Der Osteuropa- und Militärexperte Gustav Gressel glaubt nicht, dass der russische Staatschef die nukleare Option wählen wird.

München - Im Ukraine-Konflikt* hat Russlands Präsident Wladimir Putin* am Sonntag die „Abschreckungskräfte“ seines Landes in „besondere Kampfbereitschaft“ versetzt. Am Montag meldete das russische Verteidigungsministerium dann Vollzug. Im Interview mit Merkur.de* erklärt Gustav Gressel, was es damit auf sich hat. Er ist Osteuropa- und Militärexperte beim European Council on Foreign Relations, einer Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin.

Herr Gressel, das russische Verteidigungsministerium hat seine Abschreckungswaffen am Montag in verstärkte Alarmbereitschaft versetzt. Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass die Kommandolinks hergestellt wurden, um überhaupt einen Abschussbefehl geben beziehungsweise eine Waffe armieren zu können. Konkret heißt das: Es wurden Kabel in die entsprechenden Waffen gesteckt, damit man sie überhaupt abschießen kann.

Besteht aktuell denn die Gefahr, dass Putin seine Atomwaffen einsetzen wird?

Ich bin sehr skeptisch, dass er sich dazu entscheidet, seine Atomwaffen gezielt einzusetzen. Denn er weiß, wie die Nato darauf reagieren würde. Außerdem überschätzt Putin* aufgrund seiner eigenen Paranoia die Leistungsfähigkeit des amerikanischen Raketenabwehrsystems um Weiten. Er glaubt, dass die Nato und die Amerikaner auf diesem Gebiet technologisch viel stärker seien, als sie es in Wahrheit sind. Putin befürchtet, dass Russland* auf einen Erstschlag der Nato nicht ausreichend antworten könnte. Und eben weil er glaubt, auf nuklearem Gebiet der Schwächere zu sein, würde es mich enorm wundern, wenn Russland nun nuklear eskalieren würde.

Und ist es möglich, dass die Lage aus Versehen eskaliert - etwa, weil eine der beiden Seiten die Lage falsch einschätzt?

Den ungewollten Atomkrieg gibt es nicht. Es gibt stehende Gesprächskanäle zwischen den zuständigen Generalstäben in allen nuklearen Nato-Staaten und ihrem russischen Gegenpart. Selbst wenn Russland etwas macht, das aus Nato-Sicht besorgniserregend ist, werden die Russen sofort angefunkt und gefragt, was da los ist. Entweder hat die russische Seite dann eine Erklärung, oder man zieht Konsequenzen. Zurzeit hält sich noch jeder an diese Regeln.

Atommächte und in deren Besitz befindliche Nuklearwaffen 2021
Atommächte und in deren Besitz befindliche Nuklearwaffen, Anfang 2021. © dpa

Ukraine-Krieg: „Ein nuklearer Angriff wäre nichts, das Putin seinen Kriegszielen näher bringen würde“

Ab welchem Punkt würde sich der Westen denn gezwungen sehen, auf Putins Drohungen zu reagieren?

Eine Reaktion würde dann erfolgen, wenn Putin Nato-Territorium angreifen würde. Das ist die Schwelle. Aber das weiß Putin auch.

Und wenn Putin Atomwaffen nicht gegen Nato-Gebiet, sondern gegen die Ukraine einsetzen würde? Die Ukraine ist schließlich kein Mitglied der Nato ...

In einem solchen Fall würde der Westen wohl nicht nuklear reagieren. Ich glaube aber nicht, dass es so weit kommt. Es gibt noch ein ganzes Arsenal an konventionellen Waffen, die er einsetzen kann, und solange das nicht ausgeschöpft ist, stellt sich die atomare Frage nicht. Außerdem bezweckt Putin, die Ukraine* „heim ins Reich“ zu holen, da wäre ein nuklearer Angriff nichts, das ihn seinen Kriegszielen irgendwie näher bringen würde.

Und wo wäre die rote Linie Putins?

Wenn die Nato auf der Seite der Ukraine offiziell militärisch intervenieren würde, wäre für Putin eine rote Linie überschritten. Genau aus diesem Grund hat US-Präsident Joe Biden* das schon vor längerer Zeit ausgeschlossen. Waffenlieferungen hingegen sind für Russland kein Grund, einen Atomkrieg zu beginnen. Das war in der Vergangenheit schon so: Die Russen haben Waffen an Kriegsparteien geliefert, die gegen uns kämpfen, und auch wir haben Waffen an Kriegsparteien geliefert, die gegen die Russen kämpfen. Etwa in Syrien, wo Milizen, die von uns ganz offen mit Waffen unterstützt wurden, gegen die Russen gekämpft haben. Und dennoch ist die Lage nicht nuklear eskaliert.

Ukraine-Krise: „Noch agieren die Russen innerhalb der Grenzen ihrer Weltsicht“

Das setzt allerdings voraus, dass Putin tatsächlich noch rational agiert* ...

Wenn man einen komplett Verrückten an der Macht hat, der auch noch Herr über Atomwaffen ist, gibt es immer ein gewisses Risiko. Zurzeit kann man Putins Schachzüge aber noch erklären* - auch wenn ich zum Teil ziemlich fassungslos bin, wie unvorbereitet und wie taktisch und operativ blödsinnig das ist, was die Russen derzeit in der Ukraine machen. Die russische Sichtweise auf die ukrainische Innenpolitik etwa ist auf komplett falschen Füßen gebaut. Aber noch agieren die Russen innerhalb der Grenzen ihrer Weltsicht - und damit auf gewisse Weise eben rational.

Sollte sich Putin dennoch für einen Atomschlag entscheiden - könnte er das ganz alleine?

Die Entscheidungsgewalt liegt bei Putin allein und würde nur auf andere Stellen übergehen, wenn er ausgeschaltet werden würde. Nehmen wir an, es gäbe einen Erstschlag der USA und Putin würde in Unterhosen beim Frühsport getroffen: Dann wäre sein verfassungsmäßiger Nachfolger designiert, den Gegenschlag einzuleiten. Der russische Präsident ist immer derjenige, der über einen Atomschlag entscheidet, und das ist jetzt eben Putin.

Was genau hat Putin denn nun zu dieser Eskalation gebracht? Die Sanktionen des Westens?

Es geht Putin um nukleare Abschreckung. Er sieht, dass er im Westen die Unterstützung der Bevölkerung verloren hat, dass die Solidarität auf der Seite der Ukraine ist. Putin hat mehrfach Kriege vom Zaun gebrochen, und nie zuvor war die Ablehnung derart stark wie jetzt. Hinzu kommen die Sanktionen* des Westens und auch freiwillige Sanktionen von westlichen Unternehmen, die sich vom russischen Markt zurückziehen. Das Spiel mit dem Atomkrieg als politische Waffe ist Putins einziges Mittel, um die Öffentlichkeit zu verunsichern oder zu beeinflussen. Alles andere hat ja schon versagt: Seine üblichen Apologeten sind entweder mucksmäuschenstill oder haben sich von ihm distanziert. Niemand im Westen ergreift seine Partei. Mit dem Atomkrieg droht er, damit jemand auf seine Forderungen eingeht. Das ist Teil einer Informationsoperation, aber nichts, das einen unmittelbaren Angriff einleitet.

Der russische Präsident Wladimir Putin (L) und der chinesische Präsident Xi Jinping posieren für ein Foto während ihres Treffens in Peking am 4. Februar 2022.
Zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele trafen sich der russische Präsident Wladimir Putin (links) und der chinesische Präsident Xi Jinping am 4. Februar in Peking. ©  Alexei Druzhinin / Sputnik / AFP

Ukraine-Krise: „Die Chinesen werden zunehmend nervös“

Angesichts von Putins Atom-Drohungen hat zuletzt auch China den russischen Staatspräsidenten zu Zurückhaltung aufgerufen. Welchen Einfluss hat Xi Jinping* denn auf Putin?

Putin ist hochgradig abhängig von China*. Und die Chinesen werden zunehmend nervös, weil sie mit einem so starken Umschwenken der öffentlichen Meinung im Westen und so schnellen Sanktionen nicht gerechnet haben. In China ist man aktuell dabei, die finanziellen Risiken für das Land auszuloten. Denn viele der amerikanischen Sanktionen werden extraterritorial angewendet, das heißt, dass chinesische Unternehmen, die gegen amerikanische Sanktionsregeln verstoßen, automatisch mit sanktioniert würden. Aufgrund der starken Abhängigkeit der chinesischen Volkswirtschaft vom amerikanischen Markt gibt es für viele chinesische Unternehmen und Banken derzeit sehr schwierige Entscheidungen zu treffen.

Die chinesische Sichtweise auf den Ukraine-Krieg scheint im Wandel zu sein ...

Am Anfang waren die Chinesen von Putin angetan. Weil er den Westen beschäftigt und die Amerikaner aus Ostasien weglockt. Hinzu kam die ganze antiwestliche Rhetorik, wie sich in China und Russland ähnelt. Aber wenn der Krieg so peinlich in die Hose geht wie jetzt, dann steht der Westen auf einmal wieder stärker da, als es die Propaganda weismachen will. Und das ist für die chinesische Führung nicht die Morgenlage, mit der sie aufwachen möchte.

Nachdem Putin zuletzt nuklear eskaliert hat - wie kommt er da gesichtswahrend wieder raus?

Wenn Putin die nukleare Eskalationsstufe wieder zurückfährt, dann wird er das schlichtweg nicht öffentlich sagen. Das macht er nie. Er verkündet immer nur an, wenn er mit der Eskalationsstufe rauf geht, und nie, wenn er runtergeht. (sh) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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