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Gefängnis statt Umerziehungslager: Das Leiden der Uiguren in China geht weiter

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Von: Sven Hauberg

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Dieses Bild aus dem Leak „Xinjiang Police Files“ zeigt eine Übung in einem Gefängnis in der Region Tekes im Februar 2018.
Dieses Foto aus dem Leak „Xinjiang Police Files“ zeigt eine Übung in einem Gefängnis in der Region Tekes im Februar 2018. © The Victims of Communism Memorial Foundation/AFP

„Lediglich das Etikett hat sich geändert“: Statt im Umerziehungslager sitzen viele Uiguren in Xinjiang heute im Gefängnis. Auch mit anderen Mitteln versucht China, die Menschen zu assimilieren.

Die Vereinten Nationen sprechen von „schweren Menschenrechtsverletzungen“: Hunderttausende Uiguren und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten wurden von 2017 bis 2019 in der chinesischen Provinz Xinjiang in Umerziehungslagern gefangengehalten. Das belegen unzählige Zeugenaussagen, Satellitenfotos der Lager und andere Beweisdokumente. Mittlerweile wurden viele der Lager geschlossen, viele Uiguren sitzen aber weiterhin in Haft, wie der Journalist und Sinologe Mathias Bölinger im Interview erklärt. Bölinger hat rund 20 Jahre lang aus und über China berichtet und dabei mehrfach Xinjiang bereist. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Der Hightech-Gulag: Chinas Verbrechen gegen die Uiguren“ im Verlag C.H. Beck.

Herr Bölinger, die meisten Umerziehungslager in Xinjiang wurden in den letzten Jahren geschlossen. Haben die Menschen in der Region das Schlimmste überstanden?

Nein, das Schlimmste ist ganz und gar nicht überstanden. Ein Teil der Lager wurden ab 2019 zwar tatsächlich geschlossen. Das betrifft vor allem Lager, die provisorisch eingerichtet worden waren, zum Beispiel in Schul- oder Verwaltungsgebäuden. Davon konnte ich mich zum Teil selbst vor Ort überzeugen. Es gibt aber nach wie vor Hochsicherheitsgebäude, oft außerhalb der Städte, in denen früher Umerziehungslager untergebracht waren. Diese Lager wurden offenbar umgewidmet, das sind jetzt offiziell Gefängnisse. Zumindest ein Teil der Insassen sitzt also weiter ein, lediglich das Etikett hat sich geändert.

Will China dem System so den Anschein von Legalität verleihen?

China war überrascht von der starken internationalen Kritik an den Lagern. Zunächst hat die Regierung abgestritten, dass es die Lager überhaupt gibt. Dann hieß es, es handle sich um Schulen, an denen Maßnahmen zur Deradikalisierung durchgeführt würden. Als dann das volle Ausmaß der Lager immer besser dokumentiert wurde, hat man gesagt: Wir haben das Programm eingestellt, alle Schüler haben ihren Abschluss gemacht. Übersetzt heißt das: Sie wurden „erfolgreich“ umerzogen. Viele dieser „Schüler“ wurden zwar aus den Lagern entlassen, aber anschließend zu Haftstrafen verurteilt. Dabei ist offensichtlich, dass diese Urteile genauso willkürlich sind wie die Masseninternierungen in den Lagern.

Lage der Uiguren in China: „Lockerungen gibt es ausschließlich an der Oberfläche“

Wie viele Menschen hält China in Xinjiang derzeit gefangen?

Wir können relativ gut abschätzen, dass von 2017 bis 2019 mindestens eine Million Menschen in den Umerziehungslagern eingesperrt wurden. Es gibt aus dieser Zeit mehrere Datenleaks, aus denen sich das ablesen und auf ganz Xinjiang hochrechnen lässt. Zudem wurden öffentliche Ausschreibungen für den Bau der Lager bekannt. Auch daran ließ sich das ganze Ausmaß abschätzen. Wie viele Menschen heute in Xinjiang im Gefängnis sitzen, lässt sich hingegen schwer sagen, weil es keine Leaks mehr gibt. Die Polizei und die Behörden haben offenbar die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, um zu verhindern, dass Informationen durchgestochen werden.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer ‚Zwischenform aus Repression und Lockerung‘ seit 2019. Das, was Sie beschreiben, klingt allerdings kaum nach Lockerungen …

Lockerungen gibt es ausschließlich an der Oberfläche. Man sieht heute in Xinjiang hin und wieder eine Frau mit Kopftuch auf den Straßen, die Menschen hören wieder Musik. Und die Polizeipräsenz in den Städten ist weniger sichtbar geworden. Das bedeutet aber nicht, dass der Staat die Kontrolle aufgegeben hat. Zwangsarbeit ist weiter verbreitet, außerdem werden noch immer Regierungsbeamte für Tage oder sogar Wochen in Familien einquartiert, um diese auszuspionieren.

Wie weitverbreitet ist Zwangsarbeit in Xinjiang denn?

Zwangsarbeit gibt es in Xinjiang schon länger. Diese Programme sind nach 2016 massiv ausgeweitet worden, das ist gut dokumentiert. Vieles deutet darauf hin, dass noch heute mehr als eine Million Menschen in solchen Programmen sind. Die Zwangsarbeit ist also oftmals an die Stelle der Lager getreten. Ich habe vor einiger Zeit eine Einrichtung in Xinjiang besucht, die früher ein „Berufsbildungszentrum“ war, wie die Umerziehungslager offiziell hießen. Heute steht da auf einem Schild, es handle sich um eine „Industriezone“. Die Wachtürme, die dort früher standen, wurden zwar abgebaut; aber vor dem Gelände stehen Polizisten und lassen niemanden rein oder raus.

„China will die Uiguren assimilieren und zu treuen Staatsbürgern formen“

Sie schreiben in Ihrem Buch, China geht es bei seinem Vorgehen gegen die Uiguren auch um die kulturelle Assimilierung der Menschen.

China bezeichnet sich als „Vielvölkerstaat“, ist aber tatsächlich ein Staat der Han-Chinesen. Die Han machen 90 Prozent der Bevölkerung aus und besetzen alle wichtigen Ämter. Im Ständigen Ausschuss, dem obersten Führungsgremium des Landes, saß noch nie ein Angehöriger einer der 55 ethnischen Minderheiten, die es in China offiziell gibt. Die meisten Han leben vor allem im Osten und Zentrum Chinas. In großen Gebieten an den Rändern dominierten bis vor wenigen Jahrzehnten hingegen Völker wie die Uiguren, die Mongolen und die Tibeter, die die Regierung in Peking verdächtigt, sich vom Rest des Landes abspalten zu wollen. Das ist eine Urangst der chinesischen Führung. Deshalb werden in diesen Gebieten gezielt Han angesiedelt.

Was hat das für Folgen?

Mit der Ansiedlung der Han geht eine Benachteiligung der anderen Gruppen einher, das ist in China wie in jedem kolonialen Regime. Wer aus dem Mutterland kommt, hat die besseren Verbindungen, kann sich besser durchsetzen, unterdrückt die anderen. Chinas Regierung hat aber gesehen, dass der Wunsch der Uiguren nach Unabhängigkeit nicht einfach verschwindet. Deshalb will man die Uiguren assimilieren und zu treuen Staatsbürgern formen. Man nimmt ihnen die Identität und will sie zu einem Teil eines einzigen chinesischen Staatsvolks umerziehen, das – so nennt das die Regierung – der „kulturellen Führung“ der Han folgt. Die Menschen werden gezwungen, Chinesisch zu sprechen und die kulturellen Traditionen der Han zu befolgen.

Mehrere Länder bezeichnen das, was in Xinjiang passiert, als Völkermord. Teilen Sie diese Einschätzung?

Zumindest ist der Verdacht sehr stark. Ein Völkermord liegt immer dann vor, wenn eine Regierung oder eine Gruppe versucht, ein Volk oder Teile davon zu vernichten. Wir haben in Xinjiang zwar keine Hinweise auf eine systematische Massentötung von Uiguren und anderen Minderheiten, auch wenn es in den Lagern und Gefängnissen natürlich zu Todesfällen gekommen ist und noch immer kommt. Belegt ist aber, dass die Regierung Maßnahmen unternommen hat, um Geburten zu verhindern. So werden an uigurischen Frauen seit Jahren Zwangssterilisationen vorgenommen. Juristen streiten noch, ob man der Regierung die Absicht nachweisen kann, die muslimischen Turkvölker in Xinjiang zu dezimieren. Sehr viele Voraussetzungen, um von einem Völkermord zu sprechen, sind aber erfüllt. Klar ist auf jeden Fall, dass China in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.

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