Coronavirus: Heikler Palmer-Vorstoß erhitzt die Gemüter - Doch Wissenschaftler stimmt im ZDF ein

Wie lange soll Deutschland zuhause bleiben? Und wie kann es danach weitergehen? Der ethisch durchaus heikle Vorschlag, Risikogruppen zu isolieren, sorgt für Streit.
- Deutschland befindet sich aufgrund der Coronavirus-Pandemie in einem weitgehenden Stillstand.
- Um die Zahl der Infektionsfälle einzudämmen, sollen die Bürger derzeit zuhause bleiben, wann immer möglich.
- Politiker und Experten suchen unterdessen nach Auswegen. Ein Vorschlag polarisiert dieser Tage besonders.
Berlin/Tübingen - Nicht nur die Frage, wann der Corona-Shutdown* wieder beendet werden kann, treibt die Menschen in Deutschland um. Sondern auch die Frage, wie das Leben im Land wieder Fahrt aufnehmen kann.
Denn während Ökonomen vor gravierendsten Auswirkungen der Beschränkungen auf die Wirtschaft warnen, scheint schon jetzt klar: In einigen wenigen Wochen wird das für Teile der Bevölkerung höchstgefährliche Virus nicht zu bezwingen sein. Auch die Hilfspakete der Bundesregierung reichen erst einmal nur auf kurze Sicht, wie erste Politiker nun auch öffentlich klarstellen. Eine bedrohliche zeitliche Lücke scheint sich aufzutun.
Coronavirus: Künast reagiert gereizt auf Palmer-Vorstoß - „Unsinniger Vorschlag“
Die Grünen-Politikerin Renate Künast hat sich nun gegen den Vorschlag gestellt, zur Bekämpfung der Coronakrise ältere Menschen längerfristig abzuschotten. „Knapp 18 Millionen Menschen kann man nicht kasernieren, ohne Kontakt zu Jüngeren zu haben“, sagte sie den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland vom Donnerstag.
„Das funktioniert am Ende überhaupt nicht.“ Auch „die älteren Leute ab 60 aufwärts“ würden von der Gesellschaft gebraucht, fügte die 64-Jährige hinzu. „Das ist ein unsinniger Vorschlag“, fügte die Grüne hinzu.
Video: Jens Spahn stimmt Bevölkerung auf lange Geduldsprobe ein
Coronavirus: Boris Palmer will Alte und Risikogruppen „aus dem Alltag herausnehmen“
Zuvor hatte unter anderem Künasts streitbarer Parteikollege Boris Palmer eine längere Abschottung von Älteren vorgeschlagen, während die Auflagen für Jüngere gelockert werden könnten. „Menschen, die über 65 Jahre alt sind, und Risikogruppen werden aus dem Alltag herausgenommen und vermeiden weiter Kontakte. Jüngere, die weniger gefährdet sind, werden nach und nach und kontrolliert wieder in den Produktionsprozess integriert“, beschrieb der Tübinger Oberbürgermeister das Modell in der Welt.
Palmer betonte, einen „langfristigen Lockdown werden wir in unseren freiheitlich geprägten westlichen Gesellschaften nicht durchstehen“. Es sei daher notwendig, „dass wir uns Gedanken über Exit-Strategien machen“. Auf Facebook legte Palmer nach. „Das Virus hat offenkundig sehr selektive Eigenschaften. Wir können daher nicht alle Menschen gleich behandeln. Wir müssen die besonders schützen, die besonders gefährdet sind“, schrieb er.
Coronavirus: Risikogruppen abschotten? Drosten erteilt Vorschlag eine Absage
Eine Absage für entsprechende Vorschläge erteilte am Donnerstag allerdings auch der bekannte Virologe Christian Drosten. „Solche einfachen Forderungen, dass man einfach Risikogruppen isoliert, das funktioniert nicht“, sagte er bei einer Pressekonferenz mit Wissenschaftsministerin Anja Karliczek (CDU). Allerdings erklärte auch Drosten mit Blick auf die strikten Einschränkungen: „Man muss da raus.“
Bundesinnenminister Horst Seehofer äußerte sich noch drastischer. „Es ist eine Illusion zu glauben, man könne ein Virus schrittweise steuern, so dass nur die 90-Jährigen oder 80-Jährigen oder 70-Jährigen betroffen sind“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. „Wenn ich so etwas höre, da werde ich verrückt.“
Coronavirus: Philosoph und Ex-Staatsminister Nida-Rümelin für „Hochfahren der Ökonomie“ möglichst bald
Unterstützung fand Palmers Standpunkt aber auch aus dem akademischen Leben - allerdings nicht von einem Virologen, sondern von einem Philosophen. „Unter der Bedingung, dass die Alten und gesundheitlich Gefährdeten wirklich geschützt sind“, könne man das „minimale Risiko für den Rest der Gesellschaft eingehen“, befand der frühere Kulturstaatsminister und Uni-Professor Julian Nida-Rümelin in einem Interview mit dem ZDF.
Allerdings sei genau das derzeit nicht der Fall: Die Alten seien nicht geschützt und versorgt. Beginnen solle ein Wiederhochfahren der „Ökonomie, des sozialen und kulturellen Lebens“ „möglichst bald“, sagte Nida-Rümelin. „Schauen wir mal, wie die Maßnahmen jetzt greifen.“
Nida-Rümelin attestierte auch ein „Kommunikationsproblem“ zwischen Politik und Wissenschaft. „Die führenden Virologen, die befragt werden von der Politik und der Öffentlichkeit - fast alle sagen, ‚Vorsicht, wir können nicht die Verantwortung für die Gesamtstrategie übernehmen‘. Das muss die Politik und Gesellschaft entscheiden“, betonte er. Denkverbote dürfe es nicht geben.
Coronavirus: „Ich bin 71 und soll isoliert werden!“ - Palmer-Vorschlag polarisiert heftig
Auch in den sozialen Netzwerken wird teils höchst emotional über den Vorschlag des Grünen-OB debattiert. „Ich schäme mich für euch, bin 71 Jahre und soll isoliert werden!!“, beklagte sich etwa ein Twitter-User bei Palmer: „Euch wähle ich nie wieder!“ Zustimmung gibt es freilich auch: „Ich mag zwar den Palmer nicht sonderlich als Politiker, aber so hätte man es von Anfang an machen müssen“, lautete eine andere Wortmeldung.
Eher indirekt konterte Boris Palmer am Donnerstag auf Facebook seine Kritiker. „Nüchtern auf Daten setzen und darauf Strategien aufbauen, rettet Menschenleben“, schrieb er in einem Posting. „Mit scheinbar ethischen Argumenten, besondere Schutzmaßnahmen für Risikogruppen abzulehnen oder von vornherein als undurchführbar abzutun, kann hingegen viele Menschen das Leben kosten.“
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dpa/fn
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