Was ändert sich genau?
Das bisherige System setzt darauf, dass sich ein Patient bewusst für die Einrichtung einer ePA entscheidet und sich darum kümmert. Der Nachteil: Fast nur wer die nötige Zeit oder ein gewisses technisches Interesse hatte, hat seine elektronische Patientenakte anlegen und befüllen lassen. Jetzt drehen wir es um. Egal ob ich reich bin, oder arm, oder überhaupt kein Handy habe: Meine Befunde werden gesammelt und liegen dann jedem vor, der mich medizinisch behandelt. Damit wird sichergestellt, dass alle die gleichen Voraussetzungen in der Gesundheitsversorgung haben.
Ich muss dann also nie wieder Unterlagen mit zum Arzt schleppen?
Am Anfang werden natürlich nicht gleich alle Befunde vorliegen. Wir kümmern uns zunächst vor allem um das Medikations-Management. Im Zuge der Einführung des digitalen Rezepts noch in diesem Jahr ist dann für jeden Arzt sichtbar, welche Medikamente seine Kollegen verschrieben haben. Zusätzlich bitten wir die Apotheker, auch die nicht verschreibungspflichtigen Medikamente einzutragen, die ja auch oft für Wechselwirkungen verantwortlich sind. Zusätzlich können aber auch schon in der jetzigen Ausgestaltung der ePA medizinische Informationen in verschiedenen Formaten (z. B. als pdf) abgelegt und damit für den nächsten Behandelnden zugänglich gemacht werden.
Muss ich als Patient etwas tun?
Nein, das ist ja das Schöne. Es sei denn, Sie wollen nicht, dass eine elektronische Akte angelegt wird. Um zu widersprechen, werden die Krankenkassen geeignete Kanäle zur Verfügung stellen. Wir glauben aber, dass die meisten Menschen glücklich darüber sind, dass ihre Befunde künftig wieder auffindbar sein werden – und genau dann zur Verfügung stehen, wenn sie gebraucht werden.
Wo konkret liegen die Vorteile für die Patienten?
Ich bin selbst Internist und Notfallmediziner. Deshalb weiß ich, dass gerade ältere Patienten oft mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen. In Deutschland sind 40 000 Arzneimittelwechselwirkungen bekannt, die zu schweren Verläufen wie zum Beispiel Leberversagen führen. Durch die Patientenakte fallen solche ungünstigen Kombinationen viel eher auf. Entweder schon beim Verschreiben des Rezepts oder beim Einlösen in der Apotheke.
Haben Sie noch weitere Beispiele?
Ja. Es gibt Antidepressiva, die Herzrhythmus-Störungen verursachen können. Wenn der Kardiologe aber wie bisher oft gar nicht erfährt, dass ich dieses Medikament genommen habe, muss er bei der Diagnose von vorne beginnen und leitet womöglich sogar eine unnötige Therapie ein. All das lässt sich verhindern, wenn Informationen über die elektronische Akte geteilt werden. Wie zum Beispiel auch Befunde, die durch Kollegen erhoben wurden.
Die Einrichtung der Akte ist nur der erste Schritt. Was soll künftig noch alles gehen?
Wir wollen die Akte zu einer Version reifen lassen, in der man alle Werte aus Befunden einzeln abrufen und im Zusammenhang analysieren kann. Man kann dann zum Beispiel gezielt abrufen, wie sich der Herzrhythmus über die Jahre entwickelt hat. In Dänemark und Finnland gibt es das schon heute.
Die Ärzte fürchten hingegen einen großen Zeitaufwand, weil sie vorhandene Daten einspeisen sollen.
Da hängen die Vorbehalte einiger Ärzte wohl vor allem damit zusammen, dass sie die aktuellste Software noch gar nicht kennen. Wir arbeiten daran, dass in den marktführenden Praxissystemen bald wenige Klicks ausreichen werden, um Befunde hochzuladen. Dazu kommt: Letztlich erspart es gerade den Ärzten am Ende sehr viel Zeit, wenn der Kollege seinen Job gemacht hat und die Befunde im System sind. Denn selbst wenn nichts auffällig war, sind frühere Untersuchungsergebnisse für den behandelnden Arzt immer ein großer Gewinn. Deshalb ist momentan schon vorgesehen, dass Daten aus dem aktuellen Behandlungskontext in der ePA gespeichert werden sollen.
Und wenn man gewisse Daten nicht allen Ärzten zeigen will – zum Beispiel, weil den Zahnarzt ein Schwangerschaftsabbruch nichts angeht?
Für diese Fälle gibt es die Möglichkeit, einzelne Dokumente zu verschatten oder zu löschen. Zusätzlich sollte bei solchen sensiblen Informationen mit dem Arzt besprochen werden, ob diese Information tatsächlich in der ePA abgelegt werden muss. Aus Gründen der Akzeptanz muss das möglich sein. Das wird beispielsweise in Österreich ähnlich gehandhabt.
Auch die Wissenschaft soll die in den Patientenakten gesammelten Daten nutzen können.
Ja, die Daten sollen in pseudonymisierter Form der Wissenschaft dienen. Zur Aufbewahrung der Daten wird es ein Forschungsdatenzentrum geben, das diese Daten zweckgebunden nur der dem Allgemeinwohl dienenden Forschung nutzbar macht. Diese Daten können dann auch nur für einen bestimmten einzelnen Vorgang eingesehen werden und verlassen ihren sicheren Aufbewahrungsort dabei nicht. Wer aber auch das nicht will, kann auch dieser Nutzung separat widersprechen.
Und wie sieht es mit der technischen Datensicherheit aus – zum Beispiel vor Hackerangriffen?
Jedes Produkt, das wir als Gematik freigeben, wird vorher von zwei Bundesinstituten auf seine Sicherheit geprüft – also auch die elektronische Patientenakte. Zudem machen wir unsere Sicherheitsstandards im Internet öffentlich, wo die versierte IT-Landschaft uns sozusagen auf die Finger schauen kann. In einer Art Wettbewerb fordern wir sogar dazu auf, uns auf mögliche Probleme hinzuweisen. Die technische Sicherheit ist also sehr hoch.
Interview: Sebastian Horsch