Droht neuer Krieg zwischen Israel und dem Libanon? Nahostexperte sieht „großes Risiko bei Netanjahu“
Mit dem Israel-Krieg wankt der Frieden im Nahen Osten. Ein Experte sieht Risiken vor allem im Libanon, wo die Hisbollah ähnlich gefährlich ist wie die Hamas.
Beirut – „Der Libanon befindet sich im Auge des Sturms“, warnte Libanons Ministerpräsident Nadschib Miqati vor wenigen Tagen eindringlich. Bislang sei die radikalislamische libanesische Hisbollah zwar „rational und überlegt“ mit dem Krieg in Israel umgegangen. „Aber ich kann den Libanesen nicht zusichern, dass es so bleiben wird.“
Fakt ist: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober gibt es beinahe täglich auch militärische Auseinandersetzungen an der israelisch-libanesischen Grenze. Es gibt Angriffe aus dem Libanon auf Israel, Israels Militär reagiert mit Gegenbeschuss. Die Sorge wächst, dass die vom Iran unterstützte Hisbollah-Miliz vom Südlibanon aus eine neue Front in Israel eröffnen könnte – und sich der Krieg auf den Libanon ausweitet.

Experte: Von Libanon aus größte Gefahr für Flächenbrand durch Israel-Krieg
„Die größte Gefahr für einen Flächenbrand in der Region ist eine Eskalation im Libanon“, sagt auch der Nahostexperte Dr. Andreas Böhm im Gespräch mit Fr.de von IPPEN.MEDIA. Formal befinden sich Israel und der Libanon immer noch im Kriegszustand. Seit 2006 gilt aber ein Waffenstillstand zwischen der Hisbollah und Israel.
Derzeit droht die Situation wieder zu eskalieren. Die Gefahr dafür ist so groß wie seit 17 Jahren nicht mehr. Israel hat die Hisbollah bereits gewarnt, der libanesischen Hauptstadt Beirut drohe ein ähnliches Schicksal wie Gaza, sollten die Angriffe der Hisbollah andauern.
Erinnerungen aus 2006 werden wach: Damals hatte die Hisbollah zwei israelische Soldaten in den Libanon entführt. Die israelische Regierung reagierte mit schweren Luftangriffen. Die südlichen Vororte von Beirut, eine der Hochburgen der Hisbollah, wurden laut Experte Böhm damals in Schutt und Asche gelegt. Israel attackierte Straßen, Brücken und auch den Flughafen in Beirut.

Im Libanon ist Angst vor Präventivschlag Israels offenbar groß
Im Libanon ist die Sorge groß, dass es erneut dazu kommen könnte. So erklärte der Deutschlandfunk-Korrespondent Martin Durm in einem Beitrag des Senders, Angst habe man im Libanon derzeit weniger vor einer Eskalation durch die Hisbollah, sondern vor einem Präventivschlag der israelischen Seite. Israels Verteidigungsminister Gallant habe erst am 12. November auf die Frage, ob Israel mit einem Präventivschlag gegen die Hisbollah vorgehen werde, erklärt, das werde man dann merken, wenn Israel Beirut bombardiere.
Die Sorge des libanesischen Volkes wird sicher dadurch verstärkt, dass es im Libanon laut Fachmann Böhm derzeit ein großes politisches Machtvakuum gibt: Seit über einem Jahr gibt es dort keinen Präsidenten, seit den Wahlen im Mai 2022 nur eine geschäftsführende Regierung. „Der Staat ist im Prinzip führungslos und befindet sich in Geiselhaft der Hisbollah“, erläutert Böhm.
Eskalation zwischen Israel und Hisbollah? „Libanon befindet sich am Abgrund“
Hinzu komme eine schwere Wirtschaftskrise. „Das Land befindet sich am Abgrund“, so der Nahostexperte. „Und wenn es jetzt auch noch in diesen Krieg hineingezogen würde, stürzt es in diesen Abgrund.“ Dies sei auch der schiitischen Hisbollah bewusst. „Sie weiß, dass sie ihre gesellschaftliche Legitimität im Libanon komplett verlieren würde, wenn sie einen neuen Krieg mit Israel provoziert.“
Dies sei auch einer der Gründe, weshalb die Hisbollah derzeit relativ zurückhaltend agiere. „Die Hisbollah will eigentlich nicht, dass der Konflikt eskaliert, weil dann ihre eigene Stellung in Gefahr wäre“, erklärt Böhm.
Würde die Hisbollah jetzt Raketen in Richtung Tel Aviv schicken, wäre die Reaktion fatal: Israel würde zu einem enormen Gegenschlag gegen die Hisbollah ausholen, wohl mit Unterstützung der USA, die seit dem Hamas-Angriff bereits zwei Flugzeugträger in die Region verlegt hat. Ein Dezimieren der Miliz sei aber auch nicht im Sinne des Iran, ist sie doch der mächtigste Zweig der vom Iran im gesamten Nahen Osten aufgebauten „Achse des Widerstands“.
Eskalation des Israel-Konflikts im Libanon denkbar: „Ist Netanjahus Ziel, im Amt zu bleiben“
„Das Interesse der Hisbollah an einer weiteren Eskalation ist ausgesprochen klein“, bilanziert Böhm daher. Anders könnte es jedoch auf der Seite der israelischen Regierung aussehen: „Ein großes Risiko liegt in der Person von Benjamin Netanjahu“, so Böhm. Denn: Sobald der Konflikt in Gaza eingedämmt ist, sei dessen Zeit als Regierungschef voraussichtlich beendet. Netanjahu habe nicht nur darin versagt, sein Volk vor dem grauenhaften Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober auf israelischem Territorium zu schützen, sondern auch seine langfristige Politik gegenüber der Hamas in Gaza sei gescheitert.
„Aber es ist Natanjahus Ziel, im Amt zu bleiben, auch wenn dies bedeutet, dass der Konflikt länger anhält oder gar eskaliert“, so der Experte. Auf Seite der extremistischen und rechtsextremen Kräfte in Israel könnte es daher ein Interesse daran geben, den Konflikt an der Grenze zum Libanon eskalieren zu lassen.
Hisbollah kann Israel genauso gefährlich werden wie Hamas
Die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, hält der Fachmann derzeit dennoch für gering. Zu groß sei die Gefahr eines massiven Rückschlags der Hisbollah, die dann ihr Raketenarsenal in Richtung Tel Aviv abfeuern könnte. Und auch die US-Regierung möchte eine solche Eskalation unter allen Umständen vermeiden.
Dennoch werde sich früher oder später in Israel die Frage stellen, wie man langfristig mit der Hisbollah als militärischen Arm des Irans im Libanon umgehen will. „Denn die Hisbollah wäre in der Lage, in Israel ein ähnlich grausames Szenario zu veranlassen, wie es die Hamas am 7. Oktober getan hat.“
Nahostexperte Andreas Böhm sprach mit Fr.de auch über die Struktur der Hamas – und welch ein schwieriges Unterfangen es für Israel ist, sie zu bekämpfen. Neue Karten zeigen derweil das gesamte Ausmaß der Zerstörung im Gazastreifen. (smu)