Wohlstand trotz Krieg – Historiker mit steiler These zu Russlands Bevölkerung

Der Historiker Sergej Tschernyschow geht davon aus, dass es den Menschen in Russland seit Kriegsbeginn besser geht als je zuvor.
Moskau – Nach Ansicht von Sergej Tschernyschow, einem russischen Historiker, haben viele Russen gegenwärtig bessere Lebensumstände als je zuvor. Diese Einschätzung basiert auf Beobachtungen in seiner Heimatstadt. Darüber berichtet unter anderem t-online.
Tschernyschow: „Der Mehrheit des Landes ging es nie besser als jetzt.“
Wegen des täglichen Verlustes von hunderten russischen Soldaten im Ukraine-Krieg und enormen wirtschaftlichen Belastungen erhoffen viele Experten, dass sich die russische Bevölkerung früher oder später gegen die Führung von Präsident Wladimir Putin wendet. Doch der russische Historiker Sergej Tschernyschow betrachtet solche Annahmen als unzutreffend. Seiner Ansicht nach haben viele Russen gegenwärtig bessere Lebensumstände als je zuvor.
In einem Artikel für Radio Free Europe geht Tschernyschow auf die Erfahrungen in seiner Heimatstadt ein. Bei früheren Besuchen seiner Eltern, die in einem ländlicheren Stadtteil wohnen, bemerkte er fehlenden Straßenbau und Kanalisation. Erst in den letzten Jahren seien Mobiltelefone, importierte Autos und Gasanschlüsse eingeführt worden. Tschernyschow sieht die scheinbaren Kriegsnachteile nicht als belastend für die örtliche Gemeinschaft an, sondern eher eine Verbesserung der Lebensumstände.
Historiker ist sich sicher: Der Krieg vereint Menschen ideologisch
Tschernyschow erzählt von den Kriegsrückkehrern. Diese verdienten nicht nur gutes Geld, sondern genießen nun auch hohe Reputation bei der lokalen Bevölkerung: „Viele haben das Gefühl, Teil einer großen Sache zu sein. So wie ihre Großeltern den Faschismus besiegt haben, so würden sie jetzt die Nazis in der Ukraine bekämpfen“, erklärt Tschernyschow.
Große Kritik am Überfall auf die Ukraine sei für den Historiker vonseiten der älteren Generationen nicht zu erwarten. Er meint: „Die Älteren begrüßen die Rückkehr der Pioniere und des militärischen Drills samt Uniformen in den Schulen. Sie sagen, das wird aber auch Zeit, bevor die Jugend endgültig verlottert.“
Der Krieg ist am Land nicht so spürbar
Für den Historiker würden Familien auf dem Land nicht durch die Flucht vor dem Kriegsdienst zerrissen werden. Die Männer sitzen in diesen Regionen entweder im Gefängnis, wurden bereits einberufen oder gingen freiwillig zur Armee, um Geld zu verdienen. Die großen Geldbeträge für Kriegsteilnehmer und das Gefühl, Teil einer größeren Sache zu sein, seien für Tschernyschow eine gefährliche Mischung: „Wer das nicht bedenkt, muss sich nicht wundern, wenn die Zustimmung zur herrschenden Putin-Partei dort am größten ist, wo die Menschen doch eigentlich am meisten unter dem Krieg leiden müssten.“
Die Einschränkung der Reisefreiheit, Repressionen gegen Kremlkritiker und der Sinkflug des Rubels würden vor allem die Menschen in St. Petersburg und Moskau treffen, glaubt Tschernyschow.