„Wenn ihr wegguckt, bringen sie uns um“: Lässt die Europäische Union die Menschen in Iran im Stich?
Die Menschen in Iran sterben für ein Leben in Freiheit. Doch die Aufmerksamkeit der Welt ist auf andere Krisenherde gerichtet. Macht die EU genug, um den Protestierenden beizustehen?
Brüssel – Die Europäische Union hat mit multiplen Krisen zu kämpfen. Russlands Krieg, die Klima- und Energiekrise, Inflation und ein Korruptionsskandal in den eigenen Reihen treiben Brüssel vor sich her. Dass in Iran gegen die Regierung aufbegehrt und hart gegen die Demonstrant:innen vorgegangen wird, ist hingegen nichts Neues. Westliche Beobachter:innen nahmen daher ab dem 16. September 2022 zunächst an, dass auch dieses Mal die Proteste zügig niedergeschlagen werden.
Stattdessen steht der 16. September aber, der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini, für eine Zäsur. Wenige Tage, nachdem die Kurdin ihren schweren Kopfverletzungen durch Polizeigewalt erlegen war, entstand eine neue Bewegung. „Frauen, Leben, Freiheit“ erklingt seitdem auf den Straßen des Irans, in der Diaspora und den sozialen Medien. Amini war eine Frau, eine Schwester, eine Tochter. Viele Iraner:innen können sich mit der neuen Bewegung identifizieren. Und während Menschen für ihr Recht auf Freiheit bereits starben, brauchte der Westen Zeit, um die Dimension zu verstehen – und zu reagieren.
Im Gegensatz zu früheren Protesten wie 2009, als vor allem die Mittelschicht auf die Straße ging, und 2019, als gegen eine Benzinpreiserhöhung protestiert wurde, handelt es sich jetzt um eine heterogene Bewegung. Sie wird angeführt von einer jungen Generation, die scheinbar zu allem bereit ist und richtet sich explizit gegen das religiöse Oberhaupt Ayatollah Khamenei. Grünen-Europaabgeordnete Hannah Neumann beobachtet das Geschehen genau. „In Iran herrscht seit Langem ein Kampf darüber, wer eigentlich bestimmt, wie Religiosität gelebt wird. Viele Menschen sind religiös, aber teilen nicht den Zwang, wie ihn die Revolutionsgarden einfordern. Sie wollen ihr Kopftuch tragen, – oder eben nicht. Sie wollen nicht mehr akzeptieren, dass jemand ihnen vorschreibt, wie sie zu leben haben“, sagt sie der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA.
Proteste im Iran
Am 16. September 2022 wird Jina Mahsa Amini in Teheran von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet. Der Hijab der 22-Jährigen soll verrutscht sein. Wenige Stunden später wird sie mit schweren Kopfverletzungen in eine Klinik eingeliefert, – und stirbt. Seitdem gehen die Menschen in Iran unter dem Motto „Frau. Leben. Freiheit“ auf die Straßen und protestieren gegen die Islamische Republik. Sie kämpfen dabei für nicht weniger als den Regierungssturz. Seit dem Beginn der Massenproteste sind Menschenrechtsorganisationen zufolge mehr als 500 Menschen durch Sicherheitskräfte getötet worden, darunter viele Kinder. Über 18.000 Protestierende sollen verhaftet worden sein. Auch prominente Gesichter wie die international bekannte Schauspielerin Taraneh Alidoosti sind darunter.
Iran: Revolte nach dem Tod von Jina Mahsa Amini – EU-Sanktionen gegen Mullah-Regime bislang wirkungslos
Das Mullah-Regime schlägt die Proteste mit der Raserei eines verwundeten Tieres nieder. Und das brutale Vorgehen gegen Demonstrationen beginnt Wirkung zu zeigen. Längst gehen weit weniger Menschen auf die Straßen. Zwei junge Demonstranten wurden nach Schauprozessen wegen „Kriegsführung gegen Gott“ öffentlich hingerichtet, zahlreichen anderen, teilweise Minderjährigen, droht ebenfalls die Todesstrafe.
Das hat die EU zum Anlass genommen, um die Daumenschrauben nochmal anzuziehen und gegen 20 Mitglieder der Führungsebene Sanktionen zu erlassen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bezeichnete die Maßnahmen als ein „sehr, sehr hartes Paket von Sanktionen“. Schon vor der aktuellen Protestbewegung hatte der Westen Iran mit zahlreichen Sanktionen belegt, insbesondere mit Blick auf das iranische Atomprogramm. Seit dem Tod von Amini sind weitere Sanktionspakete erlassen worden.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die EU-Strafmaßnahmen gegen Iran bislang wirkungslos scheinen. Eine weitere Verschärfung von Wirtschafts- und Finanzsanktionen sieht Grünen-Politikerin Neumann jedoch kritisch: „Noch mehr wirtschaftliche Sanktionen treffen vor allem die Menschen, die gerade auf der Straße sind.“ Aber was dann? „Viel mehr Akteure der Revolutionsgarden auf die Sanktionsliste setzen. Aber vor allem: die Rhetorik nochmal verstärken, ein Ende der Exekutionen fordern und dem, was da im Land passiert, unsere Aufmerksamkeit widmen“, fordert die 38-Jährige. In ihrem Instagram-Kanal bekommt die Friedens- und Konfliktforscherin für ihr Engagement für Iran viel Zuspruch. Menschen kommentieren ihre Posts mit Aussagen wie: „Du sprichst wie wir“ und „Sei unsere Stimme“. Die Resonanz zeige, wie sehr die Menschen sich nach der Aufmerksamkeit des Westens sehnten, sagt Neumann.
Europas Fokus ist auf Ukraine gerichtet – doch die Menschen in Iran brauchen die Aufmerksamkeit ebenso
Ebenfalls zur Wahrheit gehört aber, dass Europa momentan eigene Sorgen hat. Neumann: „Der Fokus ist ganz klar Russlands Krieg in der Ukraine. Natürlich gibt es Menschen innerhalb der EU, die sich mit der aktuellen Situation im Iran befassen. Aber es hat gedauert, bis die EU-Institutionen aufgewacht sind und verstanden haben, dass da auch etwas ganz Wichtiges passiert, dass wir uns da nicht raus- oder zurückhalten können.“ Angesichts dessen klingt die Forderung, hinzuschauen, nicht mehr nur nach Symbolpolitik. „Die Menschen in Iran, auf den Straßen, sagen: Wenn ihr wegguckt, bringen sie uns um“, sagt dazu Neumann. Daher setzt sie auch auf den Schulterschluss zwischen Europäischer Union und den Vereinten Nationen.

Denn mit einer – erstmaligen – Sondersitzung zu Iran hat die internationale Organisation, der 193 Staaten angehören, jetzt einen historischen Schritt gemacht und eine UN-Resolution verabschiedet. Eine unabhängige Untersuchung soll Verstöße gegen die Menschenrechte in Iran dokumentieren und Beweismaterial sammeln. So könnten die Verantwortlichen eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden. Damit wurden Menschenrechtsverletzungen in 43 Jahren Islamische Republik zum ersten Mal öffentlich von den Vereinten Nationen verurteilt – und der Fokus der Weltöffentlichkeit auf Iran gerichtet. In einer Welt multipler Krisen ist Aufmerksamkeit eine harte Währung.