„Die Strategie der Schwachen“
Das Massaker in Orlando, das Attentat auf ein französisches Polizistenpaar und zuletzt die Anschläge in Bagdad und Medina – in allen Fällen wird davon ausgegangen, dass die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) für die Attentate verantwortlich ist. Können diese Anschläge Teil der sogenannten asymmetrischen Kriegsführung des IS sein?
Das Massaker in Orlando, das Attentat auf ein französisches Polizistenpaar und zuletzt die Anschläge in Bagdad und Medina – in allen Fällen wird davon ausgegangen, dass die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) für die Attentate verantwortlich ist. Können diese Anschläge Teil der sogenannten asymmetrischen Kriegsführung des IS sein?
FELIX WASSERMANN: Auch diese Attentate können der Kriegsstrategie des sogenannten IS zugerechnet werden. Jedenfalls sind diese Attacken nichts rein Privates. Es war strategisch klug vom IS, sich sogleich zu den Anschlägen zu bekennen. Damit wird die Handlungsfähigkeit und Unberechenbarkeit der Organisation dokumentiert, unabhängig davon, ob der IS überhaupt in die Planung der Taten verwickelt war. Durch das Internet finden sich potenzielle Attentäter in aller Welt. Sie fühlen sich durch die Ideologie des IS angesprochen und mobilisiert, unabhängig davon, welche Ziele sie eigentlich verfolgen. Selbst wenn daher der IS zurzeit in Syrien und im Irak immer mehr Territorium verliert, sind auch künftig solche asymmetrischen Attacken möglich und zu erwarten.
Was bedeutet denn eigentlich asymmetrische Kriegsführung?
WASSERMANN: Als asymmetrisch können Kriege beschrieben werden, wenn die Gegner grundsätzlich verschiedene Strategien anwenden, also beispielsweise die eine Seite Selbstmordattentate und die andere gezielte Tötungen durch Kampfdrohnen. Zu einer solchen Asymmetrie der Strategien kommt es dann, wenn die Gegner sich wechselseitig nicht als symmetrische Spiegelbilder begreifen wie in einem konventionellen Krieg „Staat gegen Staat“, einander also nicht als im Prinzip Gleiche anerkennen und daher auch nicht nach den gleichen, gemeinsamen Regeln kämpfen.
Seit wann tritt diese Form der Kriegsführung in Erscheinung?
WASSERMANN: Asymmetrische Kriegführung ist nicht neu. Genau genommen hat es sie schon immer gegeben. Man denke an den ungleichen Kampf der Germanen unter dem Cheruskerfürsten Arminius, einem vormaligen römischen Heerführer, gegen die Legionen des Varus im Teutoburger Wald. Auch die ungleiche Auseinandersetzung zwischen der Landmacht Sparta und der Seemacht Athen im Peloponnesischen Krieg (431 bis 404 v. Chr.) lässt sich als asymmetrisch beschreiben.
Ist denn jeder Krieg in irgendeiner Form asymmetrisch?
WASSERMANN: Nicht jeder Krieg ist in gleichem Maße asymmetrisch. So wurden die innereuropäischen Kriege seit dem Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück im Jahr 1648 im Wesentlichen als symmetrische, konventionelle Staatenkriege geführt. Wo immer eine Partei einen waffentechnologischen oder militärorganisatorischen Vorsprung erzielte, so etwa die napoleonische Armee infolge der revolutionären Einführung der Wehrpflicht, holten die Konkurrenten diesen Vorsprung durch Nachrüstung und Nachahmung wieder auf. Die Folge war, dass der europäische Krieg in der Regel als ein symmetrisches Kräftemessen zwischen gleichartig bewaffneten und organisierten regulären Heeren gedacht und geführt wurde.
Wann änderte sich das?
WASSERMANN: Erst im 20. Jahrhundert wurde das symmetrische Kriegsbild grundsätzlich erschüttert, nicht nur durch die beiden Weltkriege, die sich in vielerlei Hinsicht von den konventionellen Staatenkriegen unterschieden, sondern vor allem durch die ungleichen Kriege der Dekolonisierung. Der Begriff des asymmetrischen Krieges kam dann erstmalig in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf, als sich Politikwissenschaftler nach dem sieglosen Rückzug der USA aus Vietnam die Frage – wieder – stellten: Wie kann es sein, dass eine weit überlegene Militärmacht gegen einen viel schwächeren Gegner verliert?
Wo liegen generell die Vorteile dieser Kriegsführung?
WASSERMANN: Die Vorteile der asymmetrischen Kriegführung liegen vor allem auf der Seite des schwächeren Akteurs. Das lässt sich mit dem biblischen Kampf Davids gegen Goliath illustrieren, der häufig als Modell zur Erläuterung asymmetrischer Konfliktdynamiken herangezogen wird. Wenn sich der Hirtenjunge David auf einen symmetrischen Zweikampf mit dem hochgerüsteten, viel stärkeren Krieger Goliath einließe und nach dessen Regeln kämpfte, so hätte er keine Aussicht auf Erfolg. Die Strategie des Schwächeren besteht daher darin, auf kreative Weise die Asymmetrien auszunutzen, die er zwischen sich und seinem Kontrahenten wahrnimmt.
Wie ist eine asymmetrische kämpfende, „kleine“ Kriegspartei zu besiegen?
WASSERMANN: Das Konzept des Sieges wird in asymmetrischen Kriegen unscharf. In symmetrischen Staatenkriegen war der Sieg in der Regel spätestens dann erreicht und dadurch definiert, dass man die Hauptstadt des Gegners militärisch besetzte, was dann zu Friedensverhandlungen führte. In asymmetrischen Kriegen ist hingegen unklar, was ein Sieg sein soll. Denn die gegenwärtig unterlegene, geschlagene Partei kann dem Versprechen der asymmetrischen Kriegführung vertrauen, dass David, wenn er nur kreativ genug und mit ausreichend langem Atem agiert, Goliath letztlich doch noch in die Knie zwingen kann. Hier gilt Henry Kissingers Diktum: „Die Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert. Die reguläre Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.“
Führt der IS einen asymmetrischen Krieg?
WASSERMANN: Je nachdem, ob man den IS als Staatsbildungsprojekt, als imperiales Kalifat oder als nichtstaatliches Netzwerk begreift, wird man auch seine Kriegführung als eher staatlich-symmetrisch oder als eher imperial-asymmetrisch beziehungsweise terroristisch-asymmetrisch begreifen. Aufgrund des hybriden Charakters des ,Islamischen Staats‘ erscheint es daher sinnvoll, auch seine Kriegführung als hybrid zu beschreiben: Während der IS in Syrien und im Irak teils regulär und konventionell agiert, operiert er bei seinen nach außen gerichteten Anschlägen, so etwa jüngst in Paris und Brüssel, irregulär und unkonventionell. Es handelt sich bei der Kriegführung des IS daher um eine hybride Mischung symmetrischer und asymmetrischer Vorgehensweisen.
Welchen Stellenwert hat die Strategie des Terrorismus bei dieser Kriegsform?
WASSERMANN: Der Terrorismus, wie er vor allem seit den Anschlägen vom 11. September 2001 als Strategie im globalen Maßstab praktiziert wird, ist eine zutiefst asymmetrische Form der Kriegführung, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen nutzen transnationale Terrornetzwerke auf kreative Weise die zwischen ihnen und den von ihnen bekämpften Staaten bestehenden Asymmetrien aus, indem sie deren sicht- und verwundbare, weiche zivile Ziele aus dem globalen Untergrund heraus mit entschlossenen Selbstmordangriffen attackieren. Zum anderen können sich die derart angegriffenen offenen, liberalen Gesellschaften nicht mit vergleichbaren asymmetrischen Mitteln verteidigen und auch schwerlich hundertprozentig gegen die Terrorbedrohung schützen, ohne zu riskieren, dass sie im Verlauf der asymmetrischen Auseinandersetzung ihre Lebensweise untergraben.
Wie sollten offene Gesellschaften auf diese Bedrohung reagieren? WASSERMANN: Die Herausforderung für offene Gesellschaften besteht daher darin, klug und auch gelassen auf die asymmetrische Bedrohung durch den Terrorismus zu reagieren, statt sich zu hitzigen Überreaktionen provozieren zu lassen, die möglicherweise zu schwerwiegenden Selbstverletzungen der eigenen Lebensweise führen. Wichtig ist hierzu auch, das öffentliche Bewusstsein dafür zu stärken, dass es sich bei dem Terrorismus letztlich um eine Strategie der ganz Schwachen handelt, denen zur Organisation eines größeren Aufstandes und einer Guerilla die Kräfte fehlen.
Ist die asymmetrische Kriegsführung mit den internationalen Konventionen vereinbar?
WASSERMANN: Das Terrornetzwerk trägt mit seinen Selbstmordattentaten ebenso zur Führung und Asymmetrierung des Krieges bei wie die technologisch überlegene Macht, die im Kampf hiergegen einseitig auf Drohnen, Aufklärungssoftware und Massenüberwachung setzt. Beide Gegner, wenn auch auf gänzlich unterschiedliche Weise, führen den gleichen, asymmetrischen Krieg. Dessen Dynamik stellt die völker- und kriegsrechtliche Regulierung wie auch die Sicherheitspolitik vor erhebliche Herausforderungen.
Spekulieren die „asymmetrischen Krieger“ mit dem „David-gegen-Goliath-Effekt“ und erwarten Sympathien?
WASSERMANN: Ja, in der Tat. Wem es gelingt, sich in asymmetrischen Kriegen medial in der Position Davids zu präsentieren, der kann mit größeren Sympathien rechnen – bei den unmittelbaren Beobachtern des Kampfes ebenso wie in der Weltöffentlichkeit und der internationalen Politik und Diplomatie. Denn dem kleinen, schwachen Hirtenjungen sieht man es eher nach, wenn er im Kampf gegen den viel stärkeren Kontrahenten die konventionellen Kriegsregeln verletzt. Wie anders sollte der viel Schwächere eine „faire Chance“ haben gegen den „hässlichen“ Riesen? Da es also höchst attraktiv ist, sich als David zu präsentieren, und umgekehrt höchst unattraktiv, auf die Rolle Goliaths festgelegt zu werden, erhalten die Bilder und Berichte vom Kampfgeschehen selbst eine strategische Qualität. Das lässt sich beispielhaft an den Pressefotos nachvollziehen, die vor einigen Jahren palästinensische Jungen zeigten, wie sie Steine werfend gegen übergroß erscheinende israelische Panzer antraten.