Droht uns ein Briefwahl-Krach wie in den USA? Wie sich Deutschland gegen Wahlbetrug wappnet

Die Mär vom Wahlbetrug dominierte die US-Wahl 2020. In Deutschland steht ein Superwahljahr an. Trotz ähnlicher Erzählungen hierzulande: Rund um die Briefwahl ist einiges anders.
- Wahlbetrug durch Briefwahl: Unter anderem die AfD führt diese Erzählung aus den USA in Deutschland weiter.
- Wir haben uns fünf Vorwürfe angeschaut, inwiefern sie in Deutschland relevant werden können.
- Wissenschaftlich lassen sich keine systematischen Unregelmäßigkeiten feststellen - nur Einzelfälle.
München – Es klingt bedrückend ähnlich:
„Wir wollen nicht, dass irgendjemand Briefwahl macht, weil das zu totalem Wahlbetrug führt.“ (Ex-US-Präsident Donald Trump, Republikaner)
„Diese ganze Pandemie ist ein Schwindel, der aus völlig anderen Gründen verursacht wird, weil Sie (…) eine Briefwahl durchführen wollen, um den größten Wahlbetrug dieses Landes im nächsten Jahr durchzuführen.“ (Robert Farle, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt, 19. November 2020)
Rechtspopulisten versuchen regelmäßig, die Briefwahl schlechtzureden. In den Wahlbetrugsfantasien von Donald Trump* war diese Abstimmungsform ein zentrales Element. Während in den USA nach dem Machtwechsel etwas mehr Ruhe eingekehrt ist, spielt unter anderem die AfD* in Deutschland das gefährliche Spiel des Ex-US-Präsidenten weiter. „Eine reine Briefwahl gefährdet die Demokratie“, steht etwa auf einer Kachel der AfD Thüringen bei Facebook.
Wegen der Corona-Pandemie könnte die Briefwahl 2021 so bedeutend werden wie noch nie. Jeder Wahlberechtigte kann abstimmen, ohne Angst vor Ansteckung haben zu müssen. Vor vier Jahren lag der Briefwahlanteil bei der Bundestagswahl schon bei 28,6 Prozent. Je nach Infektionslage sind bei manchen Wahlen nun sogar reine Briefwahlen möglich.
Briefwahl und Wahlbetrug: Wilde Behauptungen, um schlechte Ergebnisse zu kaschieren
„Die AfD hat bei den letzten zwei Bundestagswahlen gesehen, dass sie im Briefwahlergebnis schlechter abgeschnitten hat“, sagt Daniel Hellmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Parlamentarismusforschung und an der Universität Halle-Wittenberg. Mit unbelegten Behauptungen rund um Briefwahl und Wahlbetrug könnten im Nachhinein schlechte Ergebnisse einfacher begründet werden, erklärt er im Gespräch mit Merkur.de*. „Wir haben nur so schlecht abgeschnitten, weil es massiven Wahlbetrug gab“, könnte es dann schnell heißen.
Dabei sind diese Erzählungen laut Hellmann selbsterfüllende Prophezeiungen: Parteien schneiden schlechter bei der Briefwahl ab, weil sie schon lange vorher erzählen, dass die Briefwahl unsicher ist, Wähler so nicht abstimmen sollten. Die Folge: Anhänger tun es auch seltener.

Bei der US-Wahl tauchten gewisse Thesen immer wieder auf. Wie sinnvoll ist es, sie in Deutschland vorzubringen? Wir haben uns fünf Vorwürfe angeschaut.
Vorwurf 1: Briefwahlstimmen treffen erst Tage nach der Wahl ein und werden noch gezählt, sodass am Wahltag kein Ergebnis feststeht
In Deutschland müssen Briefwahlunterlagen bis zur Schließung der Wahllokale (18 Uhr) eingegangen sein. Stimmen, die später eintreffen, werden nicht mehr gezählt – ein entscheidender Unterschied zu manchen Bundesstaaten in den USA. Daher sollten Wähler ihre Unterlagen rechtzeitig, also etwa zwei bis drei Tage vor dem Wahltag, bei der Post abgeben. Am Abend werden die Urnenstimmen zeitgleich mit den Briefwahlstimmen ausgezählt. „Diskussionen wie in den USA, wo das späte Auszählen von Briefwahlstimmen aus machttaktischen Gründen als Fälschungsversuch diskreditiert wurde, haben wir also nicht zu befürchten“, erklärte Pressesprecher Jürgen Hammerl vom Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz auf Anfrage. Am 14. März findet dort eine Landtagswahl* statt.
Politologe Hellmann erwartet für die Bundestagswahl 2021 ein vorläufiges Ergebnis noch am Wahltag. Er weist aber bezüglich der sogenannten Exit Polls, also Wahltagsbefragungen, darauf hin: „Die Ergebnisse können davon abweichen, was in den Briefwahllokalen passiert.“ Denn Meinungsforschungsinstitute befragen nur Wähler vor Wahllokalen. Abweichungen im Briefwahlverhalten werden auf der Grundlage vorangegangener Wahlen zwar einbezogen. Trotzdem können erste Prognosen vom Endergebnis stärker abweichen, da sich das Abstimmungsverhalten der Briefwähler nicht genau vorhersagen lässt.
Vorwurf 2: Tote stimmen ab, Personen wählen für andere oder geben mehrere Stimmen ab
Sobald jemand Briefwahlunterlagen beantragt, wird dies im Wählerverzeichnis vermerkt. Damit soll verhindert werden, dass Personen sowohl per Brief als auch an der Urne abstimmen. „Da sind die Wählerregister in Deutschland auch ziemlich gut aufgestellt“, sagt Hellmann. „In den USA werden diese ganz anders erstellt und auch die Behörden gleichen das deutlich weniger miteinander ab. Von daher sind wir da in Deutschland auf jeden Fall auf der sicheren Seite.“
Als mögliches Einfallstor für Wahlbetrug erkennt er jedoch die Abholung von Briefwahlunterlagen in Vertretung. Unter Vorlage einer Vollmacht dürfen Personen in Deutschland die Zettel für bis zu vier Personen abholen. Theoretisch ist es möglich, diese Vollmacht zu fälschen, wobei man sich jedoch der Unterschriftenfälschung und des Wahlbetrugs strafbar macht. Außerdem könne dieser Betrug relativ gut nachvollzogen werden: „Sie schreiben bei einem Verbrechen, das Sie begehen, Ihre Adresse für die spätere Aufklärung schon einmal auf.“
Ein bekannter Fall von Wahlbetrug mit genau diesem Vorgehen geschah 2014 bei der Kommunalwahl in Stendal. Damals hatte ein CDU-Stadtrat Vollmachten gefälscht und Unterlagen selbst ausgefüllt. Zudem bekamen wenige Bevollmächtige deutlich mehr Briefwahlunterlagen ausgehändigt als zugelassen. Die Sache flog auf, nachdem mehrere Stendaler im Wahllokal gesagt bekommen hatten, sie hätten schon per Brief abgestimmt.
Werden in Deutschland Briefwahlunterlagen beantragt und an eine andere als die Wohnadresse des Wahlberechtigten geschickt, wird zur Sicherheit auch ein Brief an die hinterlegte Adresse bei der Behörde versendet. So wird im Falle einer fälschlichen Beantragung der eigentliche Wahlberechtigte darüber informiert.
Video: Donald Trumps Behauptungen zum Wahlbetrug vor der US-Wahl im November 2020
Vorwurf 3: Die Wahlmaschinen für die Auszählung sind manipuliert
In den USA kursierten viele Behauptungen, Wahlmaschinen wären leicht zu knacken* und daher manipulierbar. Für Deutschland lässt sich dieser Vorwurf leicht ausräumen: Hier findet die Auszählung per Hand statt.
Vorwurf 4: Wahlbeobachter kommen nicht nah genug an den Auszählungsprozess heran
Um sicherzustellen, dass demokratische Wahlen korrekt ablaufen, kontrollieren Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) den Prozess – auch im Mitgliedsland Deutschland. Zusätzlich können Parteien Beobachter stellen. Im großen Stil sei das aber bisher eher unüblich, sagt Wahl-Experte Hellmann. Stattdessen stellten Parteien immer wieder Teile der Wahlhelfer: „Vor dem Hintergrund sitzen die Parteien da schon am Auszählungstisch.“
Vorwurf 5: Wahlbriefe gehen verloren oder werden erst später gefunden
Wahlbetrug zu messen ist schwierig, da die Betrüger natürlich ein Interesse daran haben, dass er geheim bleibt. Bei der Briefwahl bleibt ein gewisses Restrisiko, da der Stimmzettel nicht persönlich im Wahllokal ausgefüllt wird und mit der Post versendet werden muss. Zwar gibt es daher immer mal wieder Einzelfälle von Wahlbetrug. „Aber zumindest strukturell kann man keine höhere Betrugsanfälligkeit bei der Briefwahl feststellen“, befindet Hellmann. Auch im Wahllokal könnten Fehler passieren.
Vereinzelte Wahlbeschwerden rund um die Briefwahl, die Hellmann genauer untersucht hat, drehen sich häufig um Wahlunterlagen, die nicht beim Wähler angekommen sind. Manchmal bekamen Personen auch schon Wahlzettel doppelt oder falsch zugestellt. Laut dem Landeswahlleiter hatten zuletzt etwa in Mainz vor der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz bis zu rund 200 Wähler Briefwahlunterlagen doppelt erhalten - ein Druckfehler schien die Ursache.
Wahlen in Corona-Zeiten: Verändert eine reine Briefwahl das Ergebnis?
In einem Aufsatz für das Institut für Parlamentarismusforschung zur Briefwahl stellte Hellman fest: „Ein höherer Anteil führt nicht automatisch zu mehr Wahlfehlern oder Wahlbetrug.“ Ob eine reine Briefwahl das Wahlergebnis verändert, ist zwar schwer zu beantworten, weil es keinen Vergleichswert gibt. Aber: „Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es keinen ergebnisrelevanten Effekt haben dürfte“, sagt Hellmann am Telefon. Warum sollte man eine andere Partei oder einen anderen Kandidaten wählen, nur weil man per Brief statt im Wahllokal abstimmt? Einen strukturellen Einfluss kann es dennoch geben: Nämlich, wenn Personen aus unterschiedlichen Gründen die Briefwahl aus Prinzip ablehnen und dann nicht an der Wahl teilnehmen.
Ich befürchte, dass der ein oder andere die Mär vom Betrug per Briefwahl schon glaubt.
Hellmann sagt: „Die Briefwahl ist sicher, weil es unrealistisch schwer ist, per Brief Wahlbetrug zu begehen.“ Die Kosten-Nutzen-Abwägung zeige definitiv kein attraktives Modell. Meistens geht es um wenige Stimmen, die unter Umständen gefälscht werden. Auf Bundesebene sind diese kaum ausschlaggebend.
Doch manchmal können die Fakten nichts mehr ändern: „Ich befürchte, dass der ein oder andere die Mär vom Betrug per Briefwahl schon glaubt“, resümiert Hellmann. Dennoch erkennt er einen wichtigen Unterschied zu den USA: Dort sei die Wahlorganisationen schon immer sehr politisch instrumentalisiert gewesen. „Ich habe die Befürchtung, dass sich das in nächster Zeit in Deutschland* ändern könnte, aber für die absehbaren Jahre und die nächste Bundestagswahl sehe ich das noch nicht auf uns zukommen.“ (cibo) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA