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Corona-Hilfen als Mogelpackung? - Topklubs in Mittelhessen schlagen Alarm

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Es sind nicht nur die Rückzahlungen der Corona-Hilfen, die den mittelhessischen Topklubs wirtschaftliche Probleme bereiten. Die Geschäftsführer (v. l.) Andreas Joneck (RSV Lahn-Dill), Björn Seipp (HSG Wetzlar), Jonathan Kollmar (Gießen 46ers) und Tim Talhoff (EC Bad Nauheim) bringen sogar einen »Pakt für den Spitzensport« in die Diskussion. © Red

In der Pandemie zahlte der Staat vielen Profiklubs Corona-Hilfen. Jetzt laufen die Fristen für die Rückzahlung aus - viele Vereine stellt das vor neue existenzielle Probleme. Auch die Topklubs unserer Region.

Die Footballer der Dresden Monarchs sollen 100 Prozent der Corona-Hilfsgelder zurückzahlen. Dagegen geht der Verein nun juristisch vor - gegen die Bundesrepublik Deutschland. Der Verein hat am Verwaltungsgericht Köln Klage eingereicht, es geht um die Rückzahlung von Corona-Hilfen - und könnte ein Präzedenzfall werden für den gesamten Profisport.

Betroffen wären davon auch die mittelhessischen Topklubs: Handball-Erstligist HSG Wetzlar, Rollstuhlbasketball-Bundesligist RSV Lahn-Dill, Basketball-Zweitligist Gießen 46ers, Handball-Zweitligist TV 05/07 Hüttenberg und Eishockey-Zweitligist EC Bad Nauheim. Die Verantwortlichen schlagen deshalb Alarm. Denn neben den bereits getätigten bzw. noch drohenden Corona-Rückzahlungen wird es für alle wirtschaftlich immer problematischer, den Bundesliga-Spielbetrieb überhaupt noch am Leben zu halten. Mit Ausnahme der Verantwortlichen des Zweitligisten TV 05/07 Hüttenberg, der aufgrund eines existenzbedrohenden Liquiditätsengpasses bereits SOS gefunkt und eine Rettungsaktion gestartet hat, aber keinen seiner drei (!) Geschäftsführer (?) zu einem gemeinsamen Gesprächstermin entsenden konnte, stellten die Geschäftsführer Jonathan Kollmar (Gießen 46ers), Björn Seipp (HSG Wetzlar), Andreas Joneck (RSV Lahn-Dill) und Tim Talhoff (EC Bad Nauheim) in dieser Woche gegenüber dieser Zeitung die immer bedrohlicher werden Lage dar.

Corona ist für Klubs zurück

Die Coronahilfen 2020 bis 2022 sollten eine finanzielle Unterstützung für Profisportvereine, -unternehmen und Verbände auf Bundesebene (»Coronahilfen Profisport«) bieten. Sie dienten der Abmilderung, aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 erlittener finanzieller Einbußen bei den Ticketeinnahmen und sonstigen Verlusten.

Die Corona-Hilfen waren allerdings nur dafür gedacht, Insolvenzen zu verhindern. Haben Profivereine in der Zeit Einnahmen erzielt, werden diese entsprechend der sogenannten Billigkeitsklauseln nachträglich mit den Fördergeldern verrechnet. Doch warum muss das Geld aus dem »Soforthilfeprogramm Corona« überhaupt zurückgezahlt werden? Hatte die Politik nicht ursprünglich schnelle und unbürokratische Hilfe versprochen? Auf den Webseiten der dafür zuständigen Wirtschaftsministerien hieß es damals: »Die Soforthilfe muss grundsätzlich nicht zurückbezahlt werden, soweit die relevanten Angaben im Antrag richtig und vollständig waren und wahrheitsgemäß gemacht wurden.« Im nächsten Absatz hieß es aber auch: »Sollte sich der beantragte erwartete Liquiditätsengpass […] rückwirkend als zu hoch erwiesen haben, ist der entstandene Überschuss zurückzuzahlen.«

Gemäß der Billigkeitsrichtlinie »Coronahilfen Profisport« ist die Frist für die Schlussabrechnung über die empfangenen Leistungen zum 30. Juni ausgelaufen und vielen Profiklubs in Hessen mittlerweile die errechneten Rückforderungen zugestellt worden.

Plädoyer für den Profisport

»Wir stehen vor gravierenden wirtschaftlichen und strukturellen Herausforderungen. Wir hatten in den letzten Jahren Krisen in ganz schneller Abfolge und haben nun auch noch die Problematik der Rückführung der Corona-Hilfen. Rückläufige Einnahmen, vor allem bei den Zuschauern, die stagnierende Sponsoring-Situation, da auch unsere Partner hart getroffen sind. Auf der anderen Seite inflationsbedingt eine Ausgabensituation, die das Geld förmlich wegsaugt«, leitet Andreas Joneck mit markigen Worten ein.

Rückzahlung von Corona-Hilfen

Björn Seipp versucht die Problematik zu verdeutlichen: »Die Notwendigkeit, die Hilfen zu beantragen, war seinerzeit alternativlos. Grundsätzlich ist die Situation die, dass die Gelder, die wir seinerzeit generiert haben, sei es als Landesdarlehen Hessen oder als Soforthilfen vom Bund, ja Gelder waren, die dringend benötigt wurden, um den Geschäftsbetrieb aufrecht zu halten. Das Geld wurde bewilligt, kam und musste ausgegeben werden. Wir sind eben ein Nonprofit-Unternehmen, keiner von uns hatte oder hat großartige Rücklagen. Jetzt sind wir an dem Punkt, dass der Staat an den Sport geht und sagt, die damals ausgegebenen Gelder wollen wir prüfen, ob sie zu Recht ausgegeben wurden und fordern sie an der Stelle zurück, wo positive Ergebnisse erwirtschaftet wurden. Wir als HSG Wetzlar haben in mehrfacher Hinsicht bereits Coronahilfen an den Staat zurückgeführt, unter anderem auch einen hohen sechsstelligen Betrag für erhaltene Ticketersatzleistungen im Kalenderjahr 2021, in dem wir letztlich ein positives Ergebnis erwirtschaftet hatten. Das ist auch vollends ok, schließlich sind es ja Steuergelder.«

Soweit so nicht gut. »Für das Kalenderjahr 2020 streiten wir uns aber mit dem Bund. Hier haben unsere Steuerberater und Rechtsanwälte, die schon bei der Beantragung für uns tätig waren, inhaltlich vollkommen konträre Auffassungen als das zuständige Bundesverwaltungsamt in Berlin«, erläutert Seipp. »Wir befinden uns notwendigerweise bereits auf dem Klageweg, haben entsprechende bilanzielle Rückstellungen gebildet. Dazu sind einige andere Coronahilfen noch nicht geprüft, heißt, dass wir hier nicht wissen, was noch an Überraschungen auf uns zukommen kann.«

Auch die Gießen 46ers haben mittlerweile eine Rückzahlungsaufforderung im unteren bis mittleren sechsstellingen Bereich (lt. useren Informationen 150 000 bis 200 000 Euro). Dazu sagt Jonathan Kollmar: »Wir haben auch eine Rückstellung gebildet. Diese ist aber nicht ausreichend, die muss praktisch verdoppelt werden. Das werden wir aus unserem operativen Cashflow nicht zahlen können.«

Tim Talhoff vom heimischen EC Bad Nauheim sieht das ähnlich: »Wir sind auf Grund des offenen Stadions und der Tatsache, dass wir teilweise - wenn auch mit beschränkten Kapazitäten - vor Zuschauern spielen konnten, nicht mit anderen mittelhessischen Klubs vergleichbar. Wir haben auch nicht alle Hilfen in Gänze beantragt. Es war wichtig, dass dem Sport in dieser Zeit geholfen worden ist. Aber jetzt droht man, das Problem einfach um zwei, drei Jahre zu verschieben, in dem Gelder zurückgefordert werden. Das macht die Situation für die Klubs nicht besser. Wir als EC Bad Nauheim haben im uns möglichem Rahmen Rückstellungen gebildet und für die Tickethilfe I eine Rückforderung im kleinen fünfstelligen Bereich erhalten, wogegen wir Widerspruch eingelegt haben. Alles andere ist noch in Prüfung und muss endabgerechnet werden. Das gleiche gilt auch für Prüfung beim Kurzarbeitergeld.«

Auch für den RSV Lahn-Dill ist es problematisch: »Wir sind in der Prüfung der Kurzarbeitergelder. Da sind Fragen zu beantworten, die sind eben von einem Buchhalter gestellt und keinem mit einer Spielbetriebsexpertise«, informiert Andreas Joneck über den aktuellen Stand. Ticketingersatzgelder haben wir auch schon zurückzahlen müssen. Die Darlehen und Hilfsgelder sind explizit für den Profisport geleistet worden. Nicht für für jede GmbH XY. Diese Auffassung wird aber nicht uneingeschränkt geteilt.«

Man wünsche sich als Teamsport Hessen, »dass der Sport nicht mit anderen Wirtschaftsbetrieben in einen Topf geworfen wird. Die Ligen sind über Gesamt-Deutschland verteilt, die Bundesländer haben unterschiedliche Richtlinien«, sagt Talhoff.

Nachträglich die FAQ’s geändert

»Wenn man es überspitzt formuliert, können die Ticketersatzleistungen in vielen Fällen bundesweit zur Mogelpackung werden«, wählt Björn Seipp drastische Worte. »Vor zwei Jahren hat man dem Sport geholfen, die schwierige Situation zu überstehen, jetzt versucht man, mit teils strittigen Argumentationen und Herangehensweisen Gelder zurückzufordern.

Dem Vernehmen nach hat die HSG Wetzlar während der Corona-Pandemie die höchstmögliche Gesamtförderung von über 1 Million Euro nahezu ausschöpfen müssen (Anmerkung der Redaktion: analog zum EC Bad Nauheim, etwas darunter sollen die Gießen 46ers liegen), davon aber bereits rund 30 Prozent zurückgezahlt. Darunter, wie bereits beschrieben, auch einen hohen sechsstelligen Betrag für Ticketersatzleistungen aus dem Jahr 2021 (nach Informationen unser Redaktion über 400 000 Euro). Geht es dem Bundesverwaltungsamt nach, soll jetzt noch mal ein annähernd hoher Betrag für das Jahr 2020 folgen. Bei einem Etat von knapp vier Millionen Euro wären die verbliebenen Ticketersatzleistungen rückblickend kaum der Rede wert, schließlich gab es ja extreme Zuschauer-Einschränkungen von 2 G bis 0.

»Wenn wir sie jetzt zurückzahlen müssten, hat man uns damals geholfen, auch sehr öffentlichkeitswirksam, dreht uns dann aber eben heute den Strick«, betont Seipp und stellt noch einmal klar: »Das hessische Landesdarlehen war eine schnelle Hilfe gleich zu Beginn der Pandemie, mit Regeln, die für uns alle klar sind. Wir sprechen aktuell auch nicht darüber, über Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfen, wir reden hier nur von den Corona-Ticketersatzleistungen des Bundes. Die wurden zur Verfügung gestellt, als keine Zuschauer kommen durften, wir aber spielen mussten und Kosten hatten, die wir nicht decken konnten. Die Hilfen wurden uns damals aufgrund Grundlage von FAQ’s ausgezahlt, die keine Auslegung der Corona-Förderungsregelungen erwarten oder vermuten ließen, wie sie nun vom Bundesverwaltungsamt interpretiert werden. Heute streiten wir mit dem Bund darüber hinaus, auch noch über den unterschiedlichen Wortlaut von Billigkeitsrichtlinien, deren Regelungen nach Aussicht unserer fachkundigen Berater sogar im Widerspruch zu Bilanzierungsgrundsätzen stehen.«

Kollmar sagt: »Du redest mit Juristen, mit Steuerberatern mit Wirtschaftsprüfern, mit Experten und jeder schüttelt den Kopf und sagt: Das ist Quatsch, was da gemacht wird. Wir haben damals leider unterschreiben müssen, dass es zu Änderungen kommen kann. Das kann man so machen, nimmt aber im Kauf, dass die Klubs extrem in Schwierigkeiten kommen.«

Was tun?

»Es sollte uns in Mittelhessen bewusst werden, dass besonders hier in Mittelhessen jeder Zuschauer wichtig ist. Jeder der eine Karte kauft oder Sponsoring betreibt, hilft den Klubs sehr, um im laufenden Geschäftsbetrieb die Kosten im Griff zu halten - gerade in diesen Zeiten«, appelliert Seipp an das Sportpublikum. »Der Sport in Mittelhessen ist anders, anders als beispielsweise in Stuttgart, Hamburg oder Leipzig - die haben ein finanzkräftigeres Umfeld und somit andere Möglichkeiten. Wenn wir sagen, wir wollen dauerhaft Spitzensport in Mittelhessen haben, muss jeder etwas dazu beitragen.

Jonathan Kollmar macht die belastende Lage an der Gehälter-Explosion deutlich: »Ich hab den Vergleich von 2015/16 als wir aufgestiegen sind. Was damals mein teuerster Spieler verdient hat, bekommt jetzt mein günstigster Spieler. Bei uns kommt der Abstieg hinzu, wir haben keine Fernsehgelder mehr, müssen im Gegenteil selbst einen Livestream im fünfstelligen Bereich stemmen.«

Für Björn Seipp hat der Spitzen- und Profisport vor allem auch eine Vorbildfunktion für den Nachwuchs. »Dass man Sponsoren dazu gewinnt und manche auch wieder verliert, ist normal. Dass Erfolg und Misserfolg sich abwechseln, ebenfalls. Aber vom Grundsatz her ist es so, dass wir alle Verantwortung auch für die Region und somit auch für den Breiten- und den Nachwuchssport haben. Das gehört zur Thematik, die die Politik aus meiner Sicht dringend zu beachten hat.«

Die Perspektive

»Man muss die Frage stellen, wie lange Spitzensport in unserer Region in dieser Quantität und Qualität noch zu gewährleisten ist. Wir brauchen das Bewusstsein der Menschen, dass das etwas Besonderes und Schützenswertes ist. Ohne die breite Unterstützung der Sportfans, der Wirtschaft und der Politik werden die Klubs absehbar abgehängt und nicht mehr in der Lage sein, sich so zu entwickeln, wie es notwendig ist, um auf diesem Niveau konkurrenzfähig zu bleiben«, so Björn Seipp.

Andreas Joneck springt ihm zusammenfassend bei: »Deshalb ist es wichtig, die Sensibilität dafür in der Öffentlichkeit zu schüren.« Jetzt, Heute. Nicht erst, wenn es wirklich zu spät ist. Die drohenden Corona-Nachwirkungen sollten diesbezüglich ein letzter, elementarer Weckruf sein.

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