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»Dann ist es normal, behindert zu sein«

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Die Wetterauer Experten für inklusiven Sport (»WEfiS«) sollen die Idee des Projekts in die Vereine tragen. © Red

Laut UN-Konvention soll jeder gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Dazu gehört auch der Sport. Inklusion ist also ein Menschenrecht. Im Sportkreis Wetterau hat man sich dem Gedanken mit einem eigenen Projekt verschrieben.

In Berlin sind am Sonntag die Special Olympics World Games zu Ende gegangen. Erstmals wurde ein solches Event mit 7000 Athleten mit geistiger und mehrfacher Behinderung aus 176 Ländern in Deutschland ausgetragen. Doch was bleibt übrig? Wie sehr kann der Inklusionsgedanke nach der großen Sause gelebt werden? Und wie weit ist die Arbeit an der Basis?

Der Sportkreis Wetterau und der Ortenberger Verein Yourplace haben 2019 ein gemeinsames Projekt gestartet, das von der Aktion Mensch gefördert wurde. Dabei wurden die Wetterauer Experten für inklusiven Sport (»WEfiS«) ausgebildet. Im Interview erklären die Projektleiterin Katja Zielinski-Guthe aus Steinfurth und der Projektverantwortliche Rainer Gimbel aus Dorn-Assenheim, wie sie die Veranstaltung in Berlin beurteilen und wie es um die Inklusion im heimischen Raum steht.

Das »WEfiS«-Projekt ist seit knapp einem Jahr beendet. Was hat sich dadurch getan?

Zielinski-Guthe: In den Vereinen hat sich die Denkweise geändert. Die Leute, die ausgebildet wurden, setzen sich in ihren Vereinen mit dem Thema Inklusion auseinander und schauen, wie man ein Bewusstsein dafür schaffen kann. Das hat zum Teil nachhaltige Wirkung. Es gibt regelmäßige Treffen der »WEfiS«, man tauscht sich aus. Darüberhinaus gibt es seit Projektende allerdings keine große Resonanz.

Gimbel: Wir hatten im Juli 2022 eine Abschlussveranstaltung des Projekts in Bad Nauheim. Da waren viele Vereine vertreten, diese Veranstaltung war auch ein Teil einer inklusiven Sportwoche in der Wetterau. Die Vereine hatten sich da unglaublich Mühe gegeben und viel vorbereitet an Ständen usw. Da hätte ich mir einen etwas höheren Zuspruch der Menschen mit Behinderung gewünscht.

Die »WEfiS« sollen in ihren Vereinen als Multiplikatoren dienen. Können Sie das genauer erklären?

Zielinski-Guthe: Die ausgebildeten Übungsleiter, die übrigens aus vielen verschiedenen Sportarten kamen, wurden bei uns in vielfacher Hinsicht geschult, theoretisch und praktisch. Es gab Informationen zu rechtlichen und versicherungstechnischen Aspekten, zu verschiedenen Behinderungsarten und zur möglichen Struktur einer inklusiven Sportstunde. Dadurch konnten wir die Leute sensibilisieren, damit sie ihr Wissen in ihre Vorstände weitertragen und dafür sorgen, dass sich die Vereine immer mehr öffnen für Menschen mit Behinderungen.

45 Übungsleiter sind im Projektzeitraum ausgebildet worden. Wie zufrieden sind Sie mit der Ausbildung?

Gimbel: Man darf nicht vergessen, dass wir von 2019 bis 2022 ja auch mit Corona zu kämpfen hatten. Für diejenigen, die da waren, war es aus meiner Sicht ein sehr erfolgreiches Projekt. Wenn ich das Miteinander zwischen den Übungsleitern und den Menschen mit Behinderungen betrachte - da ist etwas rübergekommen. Natürlich hätten es auch ein paar Teilnehmer mehr sein können. Allerdings waren pro Lehrgang maximal 20 Personen möglich. Wir hätten uns ein Folgeprojekt gewünscht. Allerdings gibt es von der Aktion Mensch keine Anschlussförderung, wenn es der gleiche Inhalt ist.

Zielinski-Guthe: Und die 45 Übungsleiter gehörten immerhin 25 Vereinen an. Dazu kamen Vertreter aus Schulen oder aus Einrichtungen wie der Lebensgemeinschaft Bingenheim. Die »WEfiS« haben theoretisch und praktisch unglaublich viel gemacht und gelernt. Ein Lehrgang bestand ja aus zwei Wochenenden, also vier vollen Tagen. Der Sportkreis Wetterau ist weiterhin bemüht, ein Folgeprojekt zu installieren, damit Sport für alle zur Normalität wir d.

Zu Beginn des Projekts haben Sie in der Auftaktveranstaltung darauf hingewiesen, dass es in der Wetterau noch gar keine inklusiven Sportangebote gibt. Hat sich daran etwas geändert?

Zielinski-Guthe: Wir haben beispielsweise beim TSV Nieder-Mörlen das inklusive Trampolin-Turnen sowie beim TFC Echzell inklusive Angebote für Tennis-Interessierte. Es ist nicht so einfach. Vielfach müssen beispielsweise erstmal auch logistische Voraussetzungen geschaffen werden. Etliche Sportstätten sind gar nicht barrierefrei. Weiterhin ist die Wetterau noch sehr ländlich in ihrer Struktur. Es braucht zum Teil bessere Fahrangebote für behinderte Menschen.

Gimbel: Um den Gedanken des Projekts größer zu machen, sind mehr Akteure nötig, die das tatsächlich wollen. In anderen hessischen Kreisen oder auch in anderen Bundesländern sind die Strukturen vorteilhafter für Behinderte. Bei uns fehlt noch der große Knall.

Wie meinen Sie das?

Gimbel: Wir haben jetzt die »WEfiS« qualifiziert, die das auch nachhaltig in die Vereine tragen. Aber noch fehlt einem behinderten Menschen, der abends beispielsweise an Tischtennis oder an anderen Freizeitsportangeboten teilnehmen möchte, nachdem er den ganzen Tag in der Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet hat, der richtige Verein, der für alle Interessierten gleichermaßen eine Teilhabe ermöglicht. Das hat aber drei Seiten. Zum einen geht der behinderte Mensch vielleicht nicht immer so ganz kontaktfreudig nach außen, zum anderen wird der Inklusionsgedanke bei den Vereinen noch nicht konsequent umgesetzt. Und zum dritten sind bei weitem nicht alle Sportstätten barrierefrei.

Mit den Special Olympics ist ein großes Event für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung erstmals in Deutschland zu Gast. Wie sehr kann das dazu beitragen, den Inklusionsgedanken in die Köpfe zu bekommen?

Gimbel: Berlin ist ein toller Standort, und die Bevölkerung nimmt großen Anteil daran mit Besuchen der Sportstätten und Veranstaltungen. Ich glaube, dieses Ereignis wird sich positiv auf die Umsetzung von Inklusion auswirken. Aber das große Interesse hängt auch damit zusammen, dass es ein vielfältiges kulturelles Angebot gibt. Es besteht die Gefahr, dass es ein einmaliges Ereignis bleibt, dessen Wirkung verpufft. Wenn die Sportler in Berlin voller Freude ankommen uns sich auch bei den Wettkämpfen begeistern, dann weckt das bei den Menschen vielleicht Gefühle für ein gemeinsames Sporterlebnis. Aber das funktioniert oft so nach dem Motto: Schön, dass etwas für »die« gemacht wird. Aber es geht darum, dass eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung entsteht und sich diese Gemeinsamkeit in Richtung Teilhabe für alle entwickelt. Es ist normal, behindert zu sein. Aber das ist ein dickes Brett.

Zielinski-Guthe: Ich hoffe nicht, dass das Geld, das in Deutschland für Inklusion zur Verfügung steht, komplett oder zu größten Teilen in diese Spiele gesteckt wurde. Wichtig wäre, dass auch künftig genug Mittel vorhanden sind, um den Inklusionsgedanken auch weiterhin zu beleben. Für mich bedeutet Inklusion immer, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam Sport treiben. Natürlich gibt es im Sport auch den Leistungsgedanken. Aber Leistungssport und Behinderung schließen sich nicht aus. Natascha Hiltrop vom Schützenteam Wetterau beispielsweise kann es als Para-Sportlerin locker mit nicht-behinderten Schützen aufnehmen. Es kommt immer auf die Art der Behinderung und auf die Sportart an, die ein Mensch gerne ausüben möchte.

Wie kann man die Berührungsängste abbauen, die gegenüber behinderten Menschen oft noch bestehen?

Zielinski-Guthe: Die Menschen sagen das schon, wenn sie mal nicht angefasst werden wollen oder keine Hilfestellung haben möchten. Oft ist man sehr überrascht, welches Feedback man bekommt, wenn man offen auf andere zugeht. Ich bin ja selbst Übungsleiterin und hatte in meinen Gruppen schon Kinder mit Downsyndrom. Diese Kinder sind oft viel offener als wir Erwachsenen. Das muss auch bei uns in die Köpfe rein, ohne Vorurteile auf die Menschen zuzugehen.

Gimbel: Es ist ja ein gesellschaftliches Problem. Eltern, die ein Kind mit Behinderung auf die Welt bringen, haben oft Probleme. Neben Kindergarten, Schule und Beruf ist die Teilhabe an Sportangeboten ein wichtiger gesellschaftlicher Baustein, mit dem Inklusion verwirklicht werden muss. Und wenn Inklusion, also die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen, tatsächlich irgendwann gelebt wird, dann brauchen wir dieses Wort gar nicht mehr. Dann ist es normal, behindert zu sein. FOTOS: PRIVAT

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Katja Zielinski-Guthe Sportkreis Wetterau © Red
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Rainer Gimbel Yourplace e.V. © Red

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