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Das Problem mit dem X

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Diese 96. Minute war ein Schock. Es läuft die Nachspielzeit im letzten WM-Test der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Frauen, als Carolin Simon zu Boden geht. Die gebürtige Nordhessin vom FC Bayern München träumt von einem Kaderplatz bei der WM in Australien und Neuseeland, die am kommenden Donnerstag startet. Doch dieser Traum platzt jäh. Die Diagnose:

Kreuzbandriss. Monatelange Pause statt ganz große WM-Bühne.

Immer wieder das Knie, immer wieder Kreuzbandriss. Zahlreiche Fußballerinnen haben diese Verletzung bereits erlitten. Im Winter laborierten mit Vivianne Miedema (Niederlande), Beth Mead (England), Weltfußballerin Alexia Putellas (Spanien), Catarina Macário (USA) und Marie-Antoinette Katoto (Frankreich) gleich fünf der laut Ballon-d’or-Wahl 20 weltbesten Spielerinnen zeitgleich an einem Kreuzbandriss. Auch die deutsche Nationalspielerin Giulia Gwinn riss sich im Oktober 2022 schon zum zweiten Mal das Kreuzband, die gleiche Hiobsbotschaft ereilte nun erstmals Carolin Simon. Die Göttingerin Pauline Bremer, die in diesem Sommer vom VfL Wolfsburg zu Brighton & Hove Albion wechselt, hat die Verletzung ebenfalls schon hinter sich.

Viele Aspekte

»Frauen, die in der Fußball-Bundesliga spielen, tragen ein drei- bis neunmal höheres Risiko, sich einen Kreuzbandriss zuzuziehen, als Männer, die in der Bundesliga spielen«, sagt Dr. Christian Gröll. Er ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in der Orthopädischen Praxisklinik Baunatal. 40 000 Kreuzbandverletzungen gibt es jährlich in Deutschland - warum aber sind Frauen anfälliger für diese Art der Verletzung?

Einen einzelnen ausschlaggebenden Faktor gibt es nicht, sagt Gröll, vielmehr ist es ein Zusammenspiel mehrerer anatomischer und biologischer Aspekte. So tendieren Frauen aufgrund des breiteren Beckens häufiger zur X-Bein-Stellung. Dadurch laufen sie Gefahr, dass das Knie bei Belastung eher nach innen wegknickt. Vor allem bei Landungen und Richtungswechseln sind Frauen gefährdet.

Auch die Notch - also der Tunnel, durch den die Kreuzbänder im Knie verlaufen - ist bei vielen Frauen anatomisch anders konstruiert. Während sie bei Männern in der Regel rund wie ein auf dem Kopf stehendes U verläuft und so mehr Platz bietet, ist sie bei Frauen oft A-förmig, also spitzer zulaufend.

»Das bedeutet mehr Stress für das Kreuzband« erklärt Gröll. Vor allem, wenn die Neigung von Ober- und Unterschenkelknochen im Bewegungsablauf groß sei, könne das mit der Notch-Form für eine erhöhte Belastung und immer wieder kleinere Traumata sorgen, die in Summe dann zum Riss des Kreuzbandes führen können.

Natürlich spielt auch der Faktor Belastung eine entscheidende Rolle. »Das athletische Niveau hat extrem zugenommen, außerdem ist die Anzahl an Frauen, die Sport auf eben jenem Niveau treiben, gestiegen«, sagt Gröll. Bei den Weltklasse-Spielerinnen kommen zum Liga- und Europapokalbetrieb noch Länderspiele hinzu. Dieses Jahr steht eine WM an, 2024 Olympische Spiele, 2025 eine EM. Sommerpause, Füße hoch, Zeit für Regeneration? Fehlanzeige.

Stop-X-Konzept

Biologisch nimmt zusätzlich noch der weibliche Zyklus Einfluss auf die Verletzungsanfälligkeit. Laut einer Studie von 2021 sind Frauen in der Follikelphase kurz vor dem Eisprung deutlich anfälliger für Muskel- und Sehnenverletzungen als in der Lutealphase vor der Menstruation. Viele Vereine unterstützen inzwischen ihre Spielerinnen beim Erfassen des Zyklus‹, die Trainingsintensität kann so angepasst werden.

Doch allein das verhindert keinen Kreuzbandriss. Gröll rät zu präventiven Übungen in Sachen Bewegungsablauf und Reflexmuster. »Es gibt beispielsweise das Stop-X-Konzept, das vom DFB und Sportärzten erstellt wurde und mit dem man die X-Bein-Stellung loswerden möchte. Das sind leicht ausführbare Übungen, die sich simpel in den Trainingsrhythmus integrieren lassen.«

Auch Carolin Simon hat den ersten Schock inzwischen überwunden. »Ich komm‹ zurück!«, schrieb sie nach der Operation bei Instagram. Da macht auch Chrstian Gröll Hoffnung: »Wenig ist im menschlichen Körper so gut untersucht wie das Kreuzband.« BJÖRN FRIEDRICHS

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