Ohne Anführer und Krieger

Unfassbar. Unbegreiflich. Die HSG Wetzlar ist im Abstiegskampf der Bundesliga weder in der Lage, ihr handballerisches Potenzial geschweige denn ihre grundsätzlichen kämpferischen Tugenden abzurufen.
Man kann in einer Spielanalyse natürlich immer darauf verweisen, was möglich gewesen wäre, wenn: Emil Mellegard, Domen Novak und Erik Schmidt im Angriff nicht das »Lied vom Chancentod« angestimmt hätten. Zum wiederholten Male. Ihre sechs herausgespielten, aber eben kläglich vergebenen Wurfchancen allein vor der Pause hätten ausgereicht, um beim VfL Gummersbach am Sonntagnachmittag nicht nach gerade einmal 32 Minuten hoffnungslos mit 11:21 in Rückstand zu liegen, sondern ergebnismäßig fast auf gleicher Höhe.
Derweil die Trainer-Vorgänger von Interimscoach Jasmin Camdzic alle augenscheinlichen Probleme entweder ewig positiv denkend wegmoderierten bzw. mit Adam Nyfjäll und Jonas Schelker vollkommen überzogen zwei Akteure den Schwarzen Peter zuschoben, hat auch der Sportliche Leiter mit den eklatanten sportlichen und strategischen Versäumnisse der vergangenen zwölf bis 14 Monate zu kämpfen.
In einer so bedeutsamen, nach Hamms Steilvorlage vom Donnerstag-31:26 gegen Minden noch wegweisenderen Bundesliga-Partie. Die 30:37-Niederlage bei den Oberbergischen stürzt die Grün-Weißen erneut in eine tiefe Depression. Trotz eines endlich einmal störungs- und spielfreien Zehn-Tage-Fensters, in dem das Team ohne größere Verletzungssorgen und Länderspielabstellungen konzentrierte Trainingsarbeit verrichten konnte. Trotz eines professionellen Performance-Coaches als Nachfolger der zusammen mit Benjamin Matschke nach Hause geschickten Mentaltrainerin.
Entscheidend aber ist auf dem Parkett - und dazu bedarf es im Spitzen- und Wettkampfsport vielmehr Investitionen in sportliche Qualität statt in vermeintliche Glücksratgeber mit Selfcare-Ratschlägen. All das, was den beherzt aufspielenden VfL Gummersbach an Tempo, Spielwitz, taktischer Raffinesse auszeichnete, war bei den Mittelhessen nicht vorhanden. Der Rückzug langsamer als ein Bummelzug in den Voralpen. Die 6:0-Abwehr durchlässiger als aktuell die Staumauer am Edersee. Im gebundenen Angriff die Konzeptlosigkeit als Konzept.
Nicht nur der Edersee ist übergelaufen. Auch das Wetzlarer Maß ist voll. Der Blick in die Augen der Spieler verrät Ratlosigkeit, Ohnmacht, Mutlosigkeit. Das bestürzt.
Was fehlt, ist ein Fußball-»Krieger« wie der Chilene Arturo Vidal, ist ein Anführer wie der Fußball-»Tiger« Stefan Effenberg, ist ein Fußball-»Kampfschwein« wie der Belgier Marc Wilmots. Mit Wattebällchen-Psychologie holt man keine Punkte, ist diese doch am Sonntag beim 30:37-Debakel in Gummersbach schon nach einer Viertelstunde in sich zusammengebrochen.
Dank der Länderspiel-Pause haben die Wetzlarer Erstliga-Handballer nun noch einmal zehn Tage lang Zeit, sich zu 1000 Prozent auf den dann fünfwöchigen Saisonendspurt mit noch sieben Partien im Abstiegskampf zu fokussieren - und im Gegensatz zur Gummersbach-Pleite bereit zu sein! Gelingt dies nicht, bekäme die Psychologie im Sport für die Grün-Weißen als Worst Case eine vollkommen neue Bedeutung: Erstliga-Sabbatical.