Sommer-Serie (V): Geisterspiele - die neue Normalität

Pandemie, Inzidenzzahlen, Lockdown, Geisterspiele! Coronavirus-Erkrankungen und behördliche Vorgaben haben die Roten Teufel in der Saison 2020/2021 quasi tagtäglich vor neue, nie dagewesene Aufgaben und Herausforderungen gestellt.
Im Kurpark ist es still an diesem 23. Oktober 2020, einem Freitagabend. Nur wenige Menschen sind in der Stadt unterwegs. Niemand trägt ein Eishockey-Fan-Trikot. Keiner diskutiert über neue Lieblinge, über Fehleinkäufe oder Playoff-Chancen. Das Colonel-Knight-Stadion bleibt zum Heimspielen gegen die Kassel Huskies, einem Testspiel, aufgrund der gestiegenen Corona-Inzidenzzahlen, zum ersten Mal für Anhäger geschlossen. Zuschauer werden auch im weiteren Saisonverlauf nicht zugelassen. »Uns hatte ja jede Erfahrung im Umgang mit einer Pandemie gefehlt«, sagt Andreas Ortwein, damals wie heute Geschäftsführer, rückblickend. Sportlich, wirtschaftlich und organisatorisch hatte der EC Bad Nauheim - wie die gesamte Sport-Szene - nie vor einer größeren Herausforderung gestanden.
Die Zufahrt zum VIP-Park-platz ist frei an diesem Abend. Viele Stellplätze bleiben aber unbesetzt. Keiner hat hier Sonderrechte. Nur wer arbeitet, darf auch ins Stadioninnere. Zeitnehmer, Ärzte, das Sprade-TV- und Statistik-Team, Schiedsrichterbetreuer, Mitarbeiter der Geschäftsstelle, Medienvertreter - ein überschaubarer Kreis von 15, vielleicht 20 Personen. Alle mit Maske. Der Anblick ist trist. Keine Sprechchöre aus der Kurve, keine Spruchbanner, kein Feierabendbier in geselliger Runde mit Freunden zur Einstimmung auf das Wochenende. Oben, im VIP-Raum sitzt eine Handvoll Gesellschafter der Spielbetriebs-GmbH.
Das Stadion ist nach dem Warmlaufen weitgehend abgedunkelt; wie immer, wenn Stadionsprecher Richard Eberhardt die Aufstellungen vorliest. Auf der Videowand werden die neuen Konterfeis der Profis eingespielt, es läuft ein Videoclip zum einheizen. Hier ist fast alles wie immer. Die Unterbrechungen werden musikalisch begleitet. Selbst das Powerbreak, die Werbeunterbrechung in jedem Drittel, gehört zum Geisterspiel, das an diesem Freitag passenderweise von dichten Nebelschwaden auf dem Eis den kompletten Abend über begleitet wird. Identifikation fehlt.
Mitarbeiter der Geschäftsstelle sind bemüht, den TV-Zuschauern durch stetes Wischen der Plexiglasscheiben ein möglichst scharfes Bild bieten zu können. In den sozialen Medien, wo sonst quasi live über das Spiel diskutiert wird, gewähren Internet-User Einblicke in ihre Wohnzimmer, wo das Spiel über die Monitore flimmert.
Täglich wechselnde Vorgaben
Teilweise täglich hatten sich behördliche Vorgaben verändert, hatten Hygiene- und Testkonzepte überarbeitet und angepasst werden müssen. Den Verfügungen von Bund und dem Erlass vom Land waren dann Gespräche mit dem Wetteraukreis erfolgt. Einzellösungen für den einzigen Profistandort der Region mussten gefunden werden. Kreativität war gegenüber Werbepartnern und Zuschauern gefragt, da vereinbarte Leistungen nicht erbracht werden konnten. »Die Unterstützung, das Verständnis und die emotionale Verbundenheit waren sehr groß«, sagt Geschäftsführer Andreas Ortwein, der sich mit seinem Team durch den bürokratischen Wust und komplxe Antragsverfahren zu kämpfen hatte, um an vielfältige staatlichen Hilfen zu kommen. Sponsoren hatten die Liquidität gewährleistet, ehe die die ersten Gelder aus den Töpfen »Kurzarbeit«, »Tickethilfen«, »Überbrückungshilfen« und »Novemberhilfen« tatsächlich auf den Konten eingegangen sind. »Ein unglaublicher Verwaltungsaufwand«, sagt Ortwein, da mit Bund, Land und Arbeitsamt zudem noch verschiedene Instituationen involviert waren. Glück für die Roten Teufel. »Letztlich waren die Instrumente für den Etat unserer Größenordnung genau passend.«
Matthias Baldys, damals Sportlicher Leiter der Roten Teufel und heute Direktor Player Development bei DEL-Klub Kölner Haie, erinnert sich mit Blick auf Mannschaft und Training: »Jeder Tag war anders und aufs neue eine Herausforderung. Ein Riesen-Zirkus.« Vor jedem Training wurden Schnelltests bei allen Spielern und dem Trainer- und Betreuerteam durchgeführt, die Ergebnisse lückenlos protokolliert, Symptome abgefragt.
Mit dem Gesundheitsamt und dem kooperierenden Labor war man im nahezu täglichen Austausch. Teilweise wurden Tests am Flughafen in Frankfurt ausgewertet, um schnellstmöglich zumindest kurzfristig eine gewisse Planungssicherheit zu haben.
Neue Normalität
Die Szenarien für den Fall eines positiven Tests wurden immer wieder angepasst. »Dennoch mussten wir uns auf den Sport konzentieren. Wir hatten starke Importspieler, hatten Ziele. Der sportliche Alltag war da, auch wenn zu den Spielen die Atmosphäre im Stadion einem Trainignsspiel geglichen hatte. Irgendwann waren die Geisterspiele die neue Normalität.«
Baldys erinnert auch den den individuellen persönlichen Umgang mit der Pandemie. »Es gab Spieler, die unbedingt jedes Spiel durchziehen wollten, andere wiederum hatten gesundheitliche Bedenken. Das war auch für uns ein schmaler Grat.« An Montagen, Donnerstagen und Samstagen wurde zeitweise gespielt, teilweise kurzerhand sogar der Gegner ausgetauscht, um möglichst viele Spiele bestreiten zu können - in einer regulärer Hauptrunde undenkbar.
»Für Trainer Hannu Järvenpää war’s eine schwere Zeit. Er war bei seinen vorherigen Stationen im Umgang mit Sponsoren und Fans ein sehr kommunikativer Mensch. Unter diesen Umständen ist er nie richtig in Bad Nauheim angekommen«, sagt Baldys. Die Liga hatte auf die Rahmenbedingungen im Laufe der Saison reagiert und den Abstieg für einen Winter ausgesetzt. Das wiederum gab dem EC Bad Nauheim die Möglichkeit auf der Trainerposition Harry Lange, bis dato der Assistent, als Chef-Trainer eine Möglichkeit zu geben. Mit sieben sieglosen Spielen war der Österreicher gestartet. In den beiden Jahren danach hat Lange den Klub ins Halbfinale- und Finale geführt.
