„Früher hat mich das mehr gestört“, sagte der Kaufmann für Büromanagement, der in der Marketingabteilung eines Autohauses arbeitet, einmal in einem Interview. Längst geht der junge Mann mit einem Faible für Fotografie offensiv mit seiner Kleinwüchsigkeit um. So offensiv, wie er auch am liebsten Fußball spielt. Trägt T-Shirts mit der Aufschrift „Vom Dumm-Anschauen werde ich auch nicht größer“. Dreht Videos für seinen Instagram-Kanal, mit denen er seinen mehr als 2000 Followern zum Beispiel erklärt, ob seine Umgebung barrierefrei ist. Neulich begleitete ein Kamerateam des Hessischen Rundfunks den meistens froh gelaunten Stierstädter mehrere Tage lang für einen Fernsehbeitrag.
Wie gut, dass Tobias Wentzell, der als Fußballer wegen seines körperlichen Nachteils zunächst in keiner Jugendmannschaft einen Platz fand, vor knapp zehn Jahren auf das inklusive Fußballcamp des SV Teutonia Köppern aufmerksam wurde. Aus dem Ferienspaß der Initiatoren Thorsten Picha und Bruno Pasqualotto wurde eine Mannschaft, in der gehandicapte, aber auch unbeeinträchtigte Spieler aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet einmal in der Woche trainieren. Team United war schon Hessenmeister, Wentzell ist seit Jahren dessen Kapitän.
Tobias Eltern traten bereits vor Jahren in den „Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ (BKMF) ein. Der setzt sich für die Menschen und ihr direktes Umfeld ein. In ihm organisieren sich die Sportler in einer Arbeitsgruppe selbst. So lud der Vater eines Fußballers vor fünf Jahren nach Eberswalde bei Berlin zu einem Trainingslager ein. Quasi als Vorbereitung auf die World Dwarf Games, die Olympischen Spiele für kleinwüchsige Sportler, in Guelph/Ontario. Spieler aus der ganzen Republik kamen nach Eberswalde. Auch Wentzell. Die komplett eigenfinanzierte Reise nach Kanada war für den damals 18-Jährigen aber noch schlichtweg zu teuer. So feierte der Mann aus dem Taunus erst im Jahr 2019 sein Länderspieldebüt gegen die Niederlande.
In der Zwischenzeit schienen die fußballerischen Bemühungen unter dem Dach des BKMF eingeschlafen zu sein, bis vor Monaten in einer WhatsApp-Gruppe ein Aufruf zur Teilnahme an der Eurocopa gestartet wurde. Man stelle sich vor, Hansi Flick fragt unter Bundesliga-Kickern nach, wer bei einem großen Turnier mitspielen möchte. Findet auch Tobias Wentzell kurios. Er hat freilich keine Minute gezögert, seine Zusage zu geben. Auch wenn die Teilnahme mit einigen Hürden für ihn und die Mannschaft verbunden war, die am allerwenigsten mit der Körpergröße der Spieler zu tun hatten.
Den Flug nach Alicante und das Sport-Outfit musste beispielsweise jeder Nationalspieler selbst bezahlen. „Wir haben zugesehen, dass wir möglichst alle in eine Maschine kommen“, erzählt Wentzell, der einen früher angereisten Teamkollegen aus Augsburg noch für eine Nacht daheim beherbergt hatte. „Ich habe mich schon so gefreut, mit den Jungs zu fliegen“, erzählt er.
Im Hotel waren dann auch die anderen Teams aus England, Frankreich, Argentinien und des Gastgebers untergebracht. Ägypten hatte kurzfristig abgesagt. Zu den Spielen ging’s zusammen in Bussen. „Wir haben eine Playlist erstellt mit passenden Titeln wie ,Football’s Coming Home‘, haben gemeinsam mit den Engländern und Franzosen gesungen und geklatscht“, erzählt Wentzell begeistert. Auch die deutsche Hymne vor den Spielen zu hören, bleibt ihm ewig in Erinnerung.
Dafür gab’s aus sportlicher Sicht nicht so viel zu bejubeln. Schon der vorher nicht gut kommunizierte Modus – Futsal in der Halle – lag seinem Team nicht, das ohne gemeinsames Training angereist war. Wentzell hatte eine weitere Einzeltrainingseinheit mit seinem Vereinstrainer Pasqualotto draufgepackt – aber draußen, auf dem Kleinfeld.
Nur gegen Frankreich gelang seinem Team ein Sieg, da gleich mit 12:0. Der Stierstädter schoss das 1:0, sein erstes Länderspieltor, als er nach einem Eckball im Stil eines Torjägers genau richtig stand, und gab Vorlagen zu zwei weiteren Treffern. Chancenlos gegen den späteren Sieger aus Argentinien und Spanien hätte es für das deutsche Team fast im Spiel um Platz drei gegen die befreundeten Engländer nochmals mit einem Erfolg geklappt – jedoch wurden bei einer 2:1-Führung beste Chancen vergeben. „Das rächt sich im Fußball eben“, bedauerte Wentzell – 30 Sekunden vor Schluss erzielte England den 3:2-Siegtreffer.
Als eine „sehr coole Erfahrung“, die er nicht missen möchte, bezeichnet der Stürmer seine Teilnahme an der Eurocopa. Sportlich hätte es besser laufen können, auch von seinen Einsatzzeiten her. Doch schon im kommenden Jahr hat er bei einem noch größeren Turnier die Chance, sich zu steigern. Die World Dwarf Games werden vom 27. Juli bis zum 5. August in Köln auf dem Gelände der Sporthochschule über die Bühne gehen.
Eigentlich gibt es die Weltspiele im Vier-Jahres-Rhythmus, doch 2021 verhinderte die Corona-Pandemie zunächst die Durchführung. Wentzell engagiert sich im ehrenamtlichen Organisationsteam, ist für den Social-Media-Auftritt der Sportler zuständig. Mit 24 Jahren befindet er sich übrigens im gleichen Alter wie Kylian Mbappé, der Star der Franzosen. Er hat also noch mehrere Turniere vor sich, denen er seinen Stempel aufdrücken könnte.
Bei der WM freilich hat Tobias Wentzell Argentinien die Daumen gedrückt. Wegen Messi. „Er ist einfach der Beste“, meint er. Bruno Pasqualotto würde jetzt sagen: „Das passt.“ Denn seinen Kapitän nennt der Team-United-Trainer wegen der Torgefährlichkeit und der stark ausgeprägten Spielübersicht auch gerne „unser Messi“.
Diversität und Inklusion, Vielfalt und Anti-Diskriminierung sind Schlagworte, mit denen der Deutsche Fußball-Bund (DFB) oft wirbt. Warum die Verantwortlichen die Kleinwuchsfußballer nicht auf dem Schirm haben, zumal im kommenden Jahr noch die World Dwarf Games in Deutschland stattfinden, ist dem Autor dieser Zeilen schleierhaft.