Von Null auf Bronze

Darius Gußmann hat eine Erfolgsgeschichte im Eiltempo hingelegt. Der vorläufige Höhepunkt soll für den Frankfurter Senkrechtstarter über 400 Meter Hürden noch lange nicht das Ende sein.
Frankfurt -An diesen Augenblick kann sich Darius Gußmann ganz genau erinnern. An die riesige Anzeigetafel, die da im Kasseler Auestadion hing. Dass er bei den Deutschen Meisterschaften gerade Dritter über 400 Meter Hürden geworden war, wusste er, sensationell genug. Bis auch die Zeiten aufblinkten, dauerte es ein wenig, dann war es so weit: 50,79 Sekunden, nicht zu fassen - die Ziffern für den nächsten Quantensprung. „Es gibt ein Bild, wie ich die Hände über dem Kopf zusammenschlage und ungläubig schaue“, berichtet der 22 Jahre junge Läufer von Eintracht Frankfurt über den vorläufigen Höhepunkt seiner bemerkenswerten Geschichte. „Das drückt aus, wie ich mich da gefühlt habe.“
Dabei war Darius Gußmann im Rennen seines bisherigen Lebens sogar noch ein wenig unter dem Radar geflogen, weil vorne an diesem zweiten Juli-Sonntag noch etwas mehr die Post abging, wie zu erwarten. In einem spektakulären Duell wurde Eintracht-Kollege Joshua Abuaku hauchdünn Meister vor seinem Rivalen Constantin Preis, in 48,45 Sekunden, der zweitschnellsten je in Deutschland gelaufenen Zeit. Für Gußmann war Bronze so oder so das pure Glück. Zumal es erst sein siebtes Rennen über 400 Meter Hürden war. In seiner ersten richtigen Saison als Läufer. Keine eineinhalb Jahre, nachdem er, dessen Laufbahn als Hochspringer nach einem Bandscheibenvorfall früh beendet war, sportlich noch einmal von Null gestartet war.
Von einer „raketenmäßigen Entwicklung“ spricht sein Trainer Florian Daum, Darius Gußman sagt: „Das ging sehr schnell. Vor allem der Schritt vom Invaliden zu einem, der plötzlich vor Kulisse läuft und seinen Sport wie ein Halbprofi betreibt. Dafür arbeiten andere jahrelang.“ Seit er zehn war, hatte er sich Deutsche Meisterschaften im Fernsehen angeschaut, „das waren totale Idole für mich“. Und jetzt war er selbst nicht nur auf der Laufbahn zu sehen, in der ARD und vor 15 000 Zuschauern, sondern stand sogar auf dem Podium: „Davon habe ich geträumt, das habe ich sehr genossen“. Die Zuschauer habe er dann auch noch „mitgenommen“, sagt Gußmann und lacht: „Ich bin auch ein kleiner Showman.“
Kein Hochsprung mehr, dafür DJ in der Halle
Eine gewisse Extrovertiertheit war Daum früh aufgefallen, „Geltungsdrang“, sagt er, in positivem Sinn: „Den braucht man, wenn man etwas schaffen will.“ Das war ungefähr im ersten Corona-Winter, 2020/2021, als man sich bei gemeinsamen Zeiten in der Kalbacher Leichtathletikhalle besser kennenlernte. Eher zufällig betreute Daum den damaligen Hochspringer auch bei einem 200-Meter-Wettkampf in Kalbach. Eine „schöne Schrittlänge, die man gut auf die 400 Meter runterbrechen könnte“, stach ihm ins Auge. Aber Gußmann sollte und wollte Hochspringer bleiben, angeleitet von Trainer-Ikone Günter Eisinger - womit es nur bald vorbei war.
Der Rücken zwickte und wollte nicht aufhören, es ging nicht mehr. „Ich wollte es erst nicht so richtig wahrhaben“, sagt er, „das war eine schwierige Phase“. Eine Zuflucht: die Musik. Auf einmal stand Darius Gußmann mit Box und DJ-Pult in der Halle. So gab es wenigstens einen Grund, dorthin zu kommen. Auch um die Freunde beim Training zu unterhalten. Das zog Kreise: Bald legte er bei Meisterschaften und hochkarätigen Meetings in Wuppertal oder Pfungstadt auf, bei Familienfeiern und Hochzeiten. Und irgendwann fragte er Daum, ob er nicht mit dessen Gruppe voller guter Freunde ins Trainingslager nach Andalusien mitkommen könne, im Frühjahr 2022, zuständig für Musik und gute Laune, eine Art Schnapsidee. Das Ausprobieren kurzer Tempoläufe eingeschlossen.
Der Rest ist rasante Entwicklung: Von einem, der nach einem Jahr fast ohne Sport in einer anderen Disziplin durchstartet, mit ständig neuen Bestzeiten über 100, 200, schließlich 400 Meter. Das Bewegungstalent hilft, die breite mehrkämpferische Ausbildung in der Jugend, die Fähigkeit hohe Umfänge auszuhalten. Und die Freunde im Training: „Die Gruppe hat mich immer wieder aufgebaut.“
„Dann kann man auch groß träumen“
Der Rücken hält, mit gestärkter Muskulatur. Im Mai 2023 geht es erstmals in einem Wettkampf auf die Stadionrunde mit Hürden, in 52,80 Sekunden, Anfang Juli zum eigentlichen Saisonhöhepunkt: die Deutsche U23-Meisterschaft in Göttingen. „Darauf war die Saison ausgerichtet“, erklärt Darius Gußmann. Ein Strauchler an der letzten Hürde kostete Gold und womöglich die Norm für die U23-EM, wo er ein Kandidat fürs Finale gewesen wäre. In Kassel war er dann schnell genug. Zu spät für die EM, aber sei es drum: Das Kräftemessen mit Stars wie Clubkollege Abuaku sollte nach anstrengenden Wochen eine Zugabe sein, es wurde die große Show. Begleitet von Kameras für eine Doku, die Trainingspartner Tim Peters seit bald einem Jahr über die ganze Daum-Gruppe filmt. Mit einer im Fall von Darius Gußmann schon fast übertriebenen Entwicklung, hätte man sich das für ein Drehbuch ausgedacht.
„Surreal“, findet der Senkrechtstarter das alles. Leute wollen Autogramme von und Fotos mit ihm, dem angehenden Grundschullehrer, der das demnächst in Frankfurt studiert statt fürs Gymnasium in Darmstadt und bereits jobbt an der Grundschule in Praunheim, wo er sein ganzes Leben schon lang lebt. Im Hochsprung wäre ihm irgendwann eine Grenze gesetzt gewesen. Nun hat er die Disziplin gefunden, aus der er das Beste aus sich herausholen kann. „Durch eine Ansammlung von Zufällen“, meint Trainer Daum, beziehungsweise: „Schicksalhaft.“
Wie das weitergehen soll? Naturgemäß nicht mehr mit ganz so extremen Sprüngen, weiß Trainer Daum, wie die zwei Sekunden Verbesserung in dieser Saison. Irgendwann sollen es die 48 Sekunden sein. Und internationale Einsätze. Die Universiade 2025 ist ein klares Ziel, die EM 2026 im Hinterkopf. Und Los Angeles 2028? „Olympia ist mein großer Traum“, sagt Darius Gußmann, der an diesem Freitag in Weinheim noch einmal flache 400 Meter läuft, bevor ein Monat Urlaub ansteht. Dass er seinen Sport für die nächsten Schritte noch professioneller betreiben muss als bisher, weiß er, dass er wird leiden müssen auch. Und dass all das ein Privileg ist sowieso. „Die Hauptsache ist, dass man gesund bleibt und Spaß hat“, schließt Darius Gußmann. „Dann kann man auch groß träumen.“