Warum Silvie Wentzell in der Turnszene eine Ausnahmekönnerin ist

Deutsche Meisterschaft, die dritte. Silvie Wentzell, Kunstturnerin von der SGK Bad Homburg, hat wieder einen Titel geholt. Noch bemerkenswerter ist: Sie hält auch weiterhin in Wettbewerben mit bis zu 30 Jahre jüngeren Konkurrentinnen mit.
Kirdorf/Bad Soden -Es ist ja nicht so, dass Silvie Wentzell keine anderen Sportarten ausprobiert hätte und teilweise auch weiterhin ausübt. Sie klettert, reitet, fährt Ski - auch noch, muss man zu ihrer außergewöhnlichen sportlichen Laufbahn anmerken.
„Ich bin ein Bewegungs-Junkie, längere Ruhephasen sind nicht so mein Ding“, sagt die 46-Jährige. Keine andere Sportart erfülle sie aber so sehr wie das Turnen. „Das ist etwas so Spezielles, weil es mich körperlich und mental fordert, immer wieder etwas aus meinem Körper herauszukitzeln“, erzählt Wentzell und gerät dabei fast ins Schwärmen. „Es kommt von innen heraus, ich muss mich nicht zwingen.“
All das sollte man über die Kunstturnerin der SGK Bad Homburg, die in Bad Soden lebt und am Bischof-Neumann-Gymnasium in Königstein Sport und Englisch unterrichtet, wissen, um sie besser verstehen zu können. Zu ihrem Trainingsfleiß - 10 bis 12 Stunden pro Woche an vier oder fünf Tagen - kommen viel Talent und ideale körperliche Voraussetzungen. Das alles führt zu ihrer Ausnahmestellung in der Kunstturnszene.
Silvie Wentzell turnt immer noch auf einem so hohen Niveau, auf dem sonst fast ausnahmslos Konkurrentinnen unterwegs sind, die ihre Töchter sein könnten. Zum Saisonstart der von ihr auch angeleiteten Mannschaft der SGK in der viertklassigen Regionalliga (innerhalb der Deutschen Turn-Liga) steuerte sie kürzlich wieder die zweitmeisten Punkte bei.
Höchste Punktzahl aller Altersklassen
Am Wochenende untermauerte die aus dem Siegerland stammende Turnerin nun quasi ihren Status. Sie gewann bei den deutschen Altersklassenmeisterschaften im sächsischen Pirna den Titel in der Wettkampfklasse W 45, also bei den 45- bis 49-Jährigen. „Das war einer meiner besten Wettkämpfe der letzten Jahre“, freut sich Wentzell, „es ist ziemlich gut gelaufen, ich bin nahezu fehlerfrei durchgekommen.“
Mit der Gesamtpunktzahl von 56,900 Zählern war sie zudem die beste Turnerin des Tages, übertraf im Vierkampf also auch bis zu 15 Jahre jüngere Starterinnen, denn ab der W 30 geht’s bei den sogenannten Seniorenmeisterschaften los. In den Einzelwertungen lag die für ihren Heimatverein VTB Siegen antretende Frau in der W45-Wertung deutlich vor der Zweitplatzierten Heike Steinkuhle vom Heidelberger TV. Wobei ihre Darbietung an der Turnbank noch einmal eine Geschichte für sich war.
Zu gut für eine Turnbank
Neben Sprung, Stufenbarren und Boden wird diese Disziplin bei Altersklassenmeisterschaften anstelle des Schwebebalkens durchgeführt. Eine solche Turnbank ist aus Holz und sieht so ähnlich aus wie die Bänke, die seitlich in jeder Turnhalle stehen. „Eigentlich albern und nicht gut für die Knochen“, findet Silvie Wentzell. Sie habe dann eingangs ein schwieriges E-Element geturnt, dass sie sonst auf dem Schwebebalken zeigt. Beim Einturnen sprangen prompt die Schrauben aus der Bank, das Holz splitterte. Im Wettkampf blieb das Gerät dann heile. Und Silvie Wentzell auch.
Am Tag zuvor war sie schon ins fast 500 Kilometer entfernte Pirna angereist, um sich konzentriert und ausgeruht auf den Wettkampf vorbereiten zu können. Bei der Siegerehrung am Samstagabend sei sie dann glücklich und zufrieden gewesen und posierte strahlend vor der Deutschland-Fahne mit ihrer Goldmedaille. Jeder Wettkampf, den sie so bestreiten könne, sei nicht mehr selbstverständlich, sagt sie.
Zum Leistungssport war Wentzell erst 1996 gekommen, also spät für eine Turnerin. Seit mehr als 20 Jahren tritt sie nun schon für Mannschaften auf dem Top-Niveau der Deutschen Turn-Liga an. Durch ihr Referendariat verschlug es sie 2002 ins Rhein-Main-Gebiet. Sie startete in der 1. und 2. Bundesliga für die Frankfurter TG und Eintracht Frankfurt, auch für die KTV Dortmund war sie jahrelang in der höchsten Wettkampfklasse aktiv.
Als sie über einen befreundeten Trainer vor gut drei Jahren bei der SGK Bad Homburg landete, hievte die Bad Sodenerin mit weiteren Neuzugängen die Damen-Riege auf ein neues Niveau und hat sich mit ihr nach dem Aufstieg auch den Verbleib in der Regionalliga vorgenommen.
2018 und 2021 war Silvie Wentzel schon Deutsche Meisterin einer Altersklasse. Worauf sie sich in diesem Jahr besonders freut: Der Titelgewinn ist gleichbedeutend mit der Nominierung für die German Seniors. Das Altersklassen-Team des DTB wird im Rahmen des Deutschland-Pokals am 6. Oktober in Einbeck (Niedersachsen) einen Vierländerwettkampf bestreiten. Japan steht als Gegner schon fest. „Ein neues Format, auf das ich mich freue“, sagt Silvie Wentzell. Und eine neue Herausforderung für die nimmermüde Ausnahmeturnerin.