Weshalb Michelle Okrusch eine außergewöhnliche Handballerin ist

Am Samstagabend kann die TSG Oberursel Meister der Oberliga Hessen werden. Wir porträtieren eine der Führungsspielerinnen des Tabellenzweiten aus dem Hochtaunus.
Um zu verstehen, was Michelle Okrusch als Handballerin unheimlich gut kann, bedarf es einer Zeitreise. Zurück auf die Schulbank, zum Einmaleins des Handballsports, erste Stunde. In dieser wird den Anfängern etwas gelehrt, das diejenigen nicht für möglich halten werden, die diesen körperbetonten und durchaus manchmal auch harten Sport nur vom Zuschauen kennen. In der Abwehr geht es darum, an den Ball zu kommen und nicht foul zu spielen.
Um einen Gegenspieler zu verteidigen, wird versetzt auf ihn herausgetreten. Bei einem Rechtshänder mit dem linken Fuß zuerst, bei einem Linkshänder sollte es genau umgekehrt sein. Das hat seinen Grund. Bei aufrechter Körperhaltung könnte der Abwehrspieler so mit ausgestrecktem Arm an den Ball des Angreifers gelangen – wenn er denn groß genug ist – und ihn im optimalen Fall herausspitzeln.
Ja, Handballer und Handballerinnen, die sich in nahezu jedem Angriff gegenseitig wehtun, haben neben dem Werfen und Prellen des Balles als Allererstes beigebracht bekommen, ihn in der Abwehr möglichst gleich wieder zu gewinnen. Das ist wirklich so. Jeder einigermaßen geschulte Jugendtrainer lehrt das. Es gelingt aber aus den unterschiedlichsten Gründen nur in den seltensten Fällen, in Ballbesitz zu kommen. Meistens läuft nach dem Körperkontakt die Aktion einfach weiter oder es wird ein Foul geahndet. Es sei denn, man heißt Michelle Okrusch.
"Klauen" auf höchstem Niveau
Die Rückraumspielerin ist für die TSG Oberursel in vielerlei Hinsicht wichtig, vielleicht sogar die wichtigste Spielerin im Team des Tabellenzweiten der Oberliga Hessen überhaupt. Ihr Alleinstellungsmerkmal auf diesem Spielniveau ist jedoch, dass sie Bälle „klaut“. Im Sportjargon wurde die Bezeichnung dafür aus dem Basketball entlehnt: Steal. So wie andere Spielerinnen reihenweise die Bälle verlieren, droht die TSGO auch womöglich bald Michelle Okrusch zu verlieren.
Aber das ist eine andere Geschichte und in der Endphase dieser Saison schwer vorstellbar, schon alleine deshalb weil die TSGO-Damen nun einmal von Okrusch/Okrusch angeführt werden, und man das Gefühl hat, es sei schon immer so gewesen. Dabei haben ihre ältere Schwester Nadine (25) und Michelle (24) gerade mal erst ihr bestes Handball-Alter erreicht.
Wenn man sie als Handballerinnen gesehen hat und auch sonst, sollte man manchmal gar nicht meinen, dass Nadine und Michelle Okrusch Schwestern sind. Die Ältere hat immer etwas zu erzählen, vor dem Gespräch mit der Jüngeren bekommt der Reporter dagegen vom Trainer den ironischen Spruch „Viel Spaß beim Schweigen“ gedrückt. So ist es dann aber auch wieder nicht. „Der Unterschied zwischen uns ist, dass meine Schwester sehr ehrgeizig ist und ich immer mal wieder einen Tritt in den Allerwertesten benötige“, erzählt Michelle Okrusch schmunzelnd. Zurzeit befindet sie sich in den letzten Zügen ihres Studiums im Wirtschaftsingenieurwesen und müsse sich schon hin und wieder ganz schön quälen, um ins Training zu kommen. Spaß mache es ihr aber weiterhin. Und ganz so „unehrgeizig“ ist die brünette Rückraumspielerin mit dem Pferdeschwanz auch nicht.
Ihr Trainer Paul Günther charakterisiert die „komplett unterschiedlichen Spielertypen Okrusch“ als geradlinig und wuselig (Nadine) sowie schnell und mit minimalem Aufwand spielend (Michelle). Im osthessischen Löschenroth sind Nadine und Michelle Okrusch aufgewachsen, und es war klar, dass sie einmal Handball spielen würden. Mama Claudia und Papa Thomas taten das auch, „wir sind in der Halle aufgewachsen“, lächelt Michelle Okrusch.
Von ihrer Mutter, die auch ihre Trainerin war, spricht sie mit Bewunderung. Sie sei eine sehr intelligente Abwehrspielerin gewesen und immer auf den Ball gegangen. Angefangen habe sie aber mit dem Sport, weil sie mit ihrer Schwester habe spielen wollen.
Als der Umzug der Familie nach Rosbach vollzogen war, wechselten die Okrusch-Schwestern auch den Verein: von der FT Fulda zur TSG Oberursel. Ihr großes Talent blieb den Trainern das Handball-Bundes nicht lange verborgen, und so hätte Michelle Okrusch im Alter von 15 Jahren zur Jugendnationalspielerin avancieren können (an einem Lehrgang hatte sie schon teilgenommen), wenn sie sich nicht im Hessenauswahl-Training ihren ersten Kreuzbandriss zugezogen hätte.
„Gefühlt 100 Mal zum MRT“
Wenn die junge Frau das erzählt, spürt man, dass sie dieses Pech immer noch beschäftigt. Denn eine zweite Chance bekam sie nicht, obwohl sie diese anstrebte und dafür viel investierte. Zwei Jahre lang spielte sie für die HSG Bensheim/Auerbach in der A-Jugend-Bundesliga (anfangs gemeinsam mit ihrer Schwester). Auf höchstem Niveau stellte sie Torgefährlichkeit und Mannschaftsdienlichkeit – ihre zwei herausragenden Eigenschaften neben dem Bälleklauen – unter Beweis. Doch den großen Durchbruch verhinderte ihr Körper. Immer wieder streikte er. Zwei Kreuzbandrisse und eine Meniskusverletzung hat Michelle mitgemacht, „gefühlt 100 Mal war ich zum MRT“. Wie gesagt: Die Rückraumspielerin ist erst 24 Jahre alt.
Seitdem Dirk Lodders sie zur TSG Oberursel zurückgeholt hatte (damals noch in der Landesliga) läuft es für „Michi“ zumeist bestens. Vielleicht auch deswegen, weil ein gutes Pferd nur so hoch springt, wie es muss, und sie laut Angaben ihres Trainers dies in Perfektion umsetze. Lethargisch wirken die Aktionen von Michelle Okrusch allerdings nie. Sie hat aber eben früh gelernt, auf ihren Körper zu achten.
Was der jungen Frau ebenfalls wichtig ist: die Karriere neben dem Handball. Ins Berufsleben möchte die Ingenieurin einsteigen, wenn sie ihr Studium mit Bachelor abgeschlossen hat. Ob sie ihr Hobby dann noch so gut in ihr Leben einbauen kann, wisse sie jetzt noch nicht und möchte sich zu diesem Zeitpunkt nicht weiter zu ihrer sportlichen Zukunft äußern. Man kann sich vorstellen, dass sowohl ihr Trainer als auch ihre Schwester sie davon überzeugen wollen, eine weitere Saison dranzuhängen.
Saisonabschluss am Samstag gegen den Ex-Verein
Vielleicht klaut die TSG Oberursel auf der Zielgerade ja noch Tabellenführer HSG Rodgau Nieder-Roden den Meistertitel. Am kommenden Samstag (19.30 Uhr) absolviert das Team sein letztes Saisonspiel gegen die 2. Mannschaft der HSG Bensheim/Auerbach II, also den Ex-Verein der Okrusch-Schwestern. Fängt die TSGO den punktgleichen Spitzenreiter HSG Rodgau Nieder-Roden (ab 20 Uhr beim TV Hüttenberg im Einsatz) noch ab, dann könnte Michelle Okrusch in der 3. Liga Bälle stehlen. Sie wäre wieder auf einem Niveau angekommen, für das sie schon so viel investiert hat.