Carolin Schäfer: "Ich will auf dem Treppchen stehen"
Siebenkämpferin Carolin Schäfer gehört bei den an diesem Montag beginnenden Europameisterschaften der Leichtathleten in Berlin zu den Medaillenkandidaten. FNP-Mitarbeiterin Katja Sturm sprach mit der 26 Jahre alten WM-Zweiten von der LG Eintracht Frankfurt über ihre Vorbereitung und die Ziele.
Wann haben Sie Ihre letzte Pizza gegessen?
CAROLIN SCHÄFER: Die habe ich mir direkt nach Ratingen (Mehrkampf-Meeting, bei dem Schäfer die EM-Norm schaffte; Anm. d. Red.) gegönnt. Und vor drei Wochen habe ich mir noch einmal eine mit meinem Freund geteilt.
Sie wissen wahrscheinlich, warum ich frage: Nach Ihrer WM-Silbermedaille im vergangenen Jahr hatten Sie nach so etwas Fettigem gelechzt. Wie sehr achten Sie auf Ihre Ernährung?
SCHÄFER: In den vier Wochen vor der Europameisterschaft ist der Ernährungsplan sehr strikt. Nichtsdestotrotz lasse ich mir ein paar Lücken frei, in denen ich mir was gönne und auch mal Süßigkeiten esse. Einfach auch als Nervennahrung.
Mit welchen Gefühlen sehen Sie der EM entgegen?
SCHÄFER: Mit Vorfreude. Nach Ratingen habe ich pure Erleichterung verspürt, die Qualifikation abgehakt zu haben. Danach konnte ich mich endlich auf das konzentrieren, um was es in diesem Jahr geht. Das hat mir gut getan, und das hat man auch im Training gespürt, das noch mal eine andere Qualität bekommen hat.
Überraschenderweise haben Sie die Qualifikation zur Zitterpartie werden lassen, indem Sie bei der ersten Chance in Götzis drei Fehlversuche im Kugelstoßen kassierten. Was war da los?
SCHÄFER: Ich denke, ich war nach dem letzten Jahr noch ein bisschen satt. Wenn man zehn Jahre lang einer Medaille hinterher eifert und sie dann in den Händen trägt, ist das mehr als nur ein Traum, der in Erfüllung geht. Es war auch schwer, in diese neue Rolle der Gejagten rein zu schlüpfen. Da muss man sich erst wieder neue Ziele setzen. Natürlich will ich weiter den deutschen Rekord in Angriff nehmen. Aber man muss sich auch erst mal damit anfreunden, dass man mehr als 6800 Punkte gemacht hat. Wir haben zwar im Winter umso mehr gearbeitet und wieder auf die Hallensaison verzichtet. Aber die Form war nicht so früh da wie im letzten Jahr. Im Nachhinein glaube ich jedoch, dass es sehr, sehr gut war, dass ich in Götzis drei Ungültige gemacht habe. Ich brauchte so eine kleine Niederlage, um den Biss wiederzufinden.
Wie schnell haben Sie das Missgeschick verarbeitet?
SCHÄFER: Ich habe schon abends im Hotel gesagt: Okay, das darf nicht passieren, ist es aber. Dann habe ich den Schalter sofort umgelegt und gesagt: Jetzt erst recht. Jetzt bin ich wieder die Alte. Das ist das, wofür ich auch stehe: wieder aufstehen und neu angreifen. Ich hatte dann unheimlich Bock auf Ratingen.
Warum haben Sie nicht einfach einen Sicherheitsversuch gemacht?
SCHÄFER: Ich bin kein Athlet für Sicherheitsdinger. Ich will Punkte sammeln, ich will Rekorde brechen, ich will persönliche Bestleistungen erreichen.
Ihren Plan mussten Sie nicht ändern: Ratingen hatte sowieso darauf einen Platz.
SCHÄFER: Trotzdem musste ich meinen Fahrplan ändern, indem ich jetzt nach Berlin eventuell noch nach Talence fahre, da mir sonst ein dritter Mehrkampf für die World Challenge fehlt. Aber auch schon mit Blick auf die nächste Saison, denn da ist die Weltmeisterschaft erst im Oktober. Mein Deal mit meinem Trainer ist, dass ich länger frei habe, wenn ich in Frankreich starte. Das ist ein lukratives Angebot.
Welche Veränderungen haben Sie im Training vorgenommen?
SCHÄFER: Wir haben fünf Trainingslager gemacht, nachdem wir letztes Jahr nur zweimal für eine Woche in Saarbrücken waren, weil es meinem Trainer Jürgen Sammert gesundheitlich nicht gut ging. Das war schon eine Umstellung wegen der hohen Intensitäten und der kurzen Regenerationszeit. Da bin ich in ein kleines Übertraining reingekommen.
Warum haben Sie angefangen, mit Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler zusammenzuarbeiten?
SCHÄFER: Ich kann nicht lange dasselbe Training machen, weil es mich auf Dauer langweilt. Und meine neue Bestweite von Ratingen (53,69 Meter, Anm. d. Red) zeigt, dass das eine effektive Zusammenarbeit ist. Thomas vermittelt mir ein anderes Verständnis vom Speerwerfen, aber auch viele Trainingsmethoden und -übungen. Als Athlet weiß er genau, wie ich mich fühle. Er versucht mein Speerwerfen nicht um 180 Grad zu ändern, sondern sucht nach Stellschrauben, die noch nicht so eingefahren sind, dass sie sich nicht mehr ändern lassen.
Welcher Hunger soll in Berlin gestillt werden?
SCHÄFER: Der auf eine internationale Medaille im eigenen Land. Es gibt keine emotional größere Vorstellung für mich, als ins Ziel zu kommen und mit 50-, 60 000 Menschen feiern zu können. Alle meine Liebsten können mir im Stadion zwei Tage lang zuschauen und mit mir die Momente teilen. Ich will auf dem Treppchen stehen, Bronze, Silber oder Gold holen und an meine alte Form anknüpfen.
Aus Ihrem Geburtsort Bad Wildungen stammt ein weiterer Sportler, der sich in diesem Jahr an die Rolle des Verfolgten gewöhnen musste Haben Sie sich mit Ironman-Weltmeister Patrick Lange ausgetauscht?
SCHÄFER: Ich war bei der Ironman-EM in Frankfurt dabei und habe mit ihm mitgefiebert. Es ist spannend zu sehen, wie andere Sportler mit so einer Situation umgehen. Da hat man schon eine Bürde zu tragen. Patrick und ich haben uns bereits darüber ausgetauscht. Er war ja bei uns in meinem alten Verein und mit meinem Bruder in der Schule. Wir haben auf dem gleichen Sportplatz trainiert. Damals haben einige belächelt, was er macht. Toll, dass er jetzt so auftrumpft.
Patrick Lange hat viel mental gearbeitet, um die neue Situation zu bewältigen. Trainieren Sie ebenfalls Ihren Kopf?
SCHÄFER: Natürlich. Ein Siebenkampf bedeutet zwei Tage unter Hochspannung mit jeglicher Art von Psychospielchen. Körperlich bewegen sich alle im selben Bereich, da ist der Kopf entscheidend. Ich versuche bei mir zu bleiben, denn was die anderen auf die Bahn bringen, kann ich nicht beeinflussen. Ich habe schon viel erreicht und kann auf eine schöne Karriere zurückblicken. Aber bin noch jung, und es sind noch ein paar Jährchen vor mir. Da will ich noch ein bisschen mehr.
Eines Ihrer Tattoos lautet „Es geht nicht darum, wie hart du zuschlägst, sondern darum, wie hart du geschlagen wirst und trotzdem weitermachst.“ Was bedeutet dieser Spruch des Filmboxers Rocky für Sie?
SCHÄFER: Er spiegelt mich wider: das typische Stehaufmännchen. Egal, was passiert, ich versuche immer wieder, stärker daraus hervorzukommen, aber auch natürlich und authentisch zu bleiben. Ich bin keine Maschine und möchte auch keine sein. Was passiert, ist menschlich.
Wird das Aufstehen leichter?
SCHÄFER: Jeder Niederschlag steht für sich, man kann sie schwer miteinander vergleichen. Mein Schicksalsschlag (der tödliche Unfall ihres Freundes 2015, Anm. d. Red.) war der schlimmste für mich und das schwerste Aufstehen überhaupt. Rückschläge in der sportlichen Karriere formen erst den Topathleten. Keine Karriere fährt geradlinig nach oben.
Haben Sie Wege für sich gefunden, auf denen Sie am besten wieder nach oben kommen?
SCHÄFER: Es gibt immer Geheimrezepte, die einem über den ersten Kummer und Schmerz hinweghelfen. Aber man erfährt auch viel Neues. Manchmal hilft sogar schon ein Stück Schokolade. Sport ist nur ein Wegbegleiter, das richtige Leben ist ein anderes. Ich freue mich auf die Zeit danach, ich habe als Polizistin einen tollen Job, möchte sesshaft werden, Ehefrau sein, glücklich sein. Das machen können, was ich wirklich will. Raus aus der Öffentlichkeit, ein ruhiges Leben führen, essen, was ich will. Ich habe auf sehr schicksalhafte Art erfahren, was der Sport mir gibt, aber auch, was wirklich zählt: meine Familie, meine Freunde, mein Partner. Der Sport erfüllt mich, aber er ist nur eine Phase.
Wie lange soll diese noch dauern?
SCHÄFER: Bis Tokio (Olympische Spiele 2020, Anm. d. Red.) auf jeden Fall. Darüber hinaus muss man sehen, wie sich das entwickelt, ob der Körper hält, ob ich noch hungrig bin. Da ist mein Trainer jetzt schon konsequent. Er schickt mich lieber mal nach Hause, damit ich meinen Kopf frei mache und dann wieder richtig will.
Sie beide verbindet ein besonderes Verhältnis.
SCHÄFER: Wie Vater und Tochter. Ich stehe jeden Tag mit ihm auf dem Platz. Ich habe mit ihm zusammen die größten Niederlagen erfahren. Ich habe gesundheitlich mit ihm vieles durch. Wir teilen Leid und Freude. Er hat aus mir eine Weltklasseathletin gemacht. Es war für mich sehr wichtig, einen Trainer zu finden, der menschlich sehr korrekt ist, mich aber auch sportlich an meine Grenzen bringt. Der Wechsel zu ihm war 2011 genau die richtige Entscheidung. Bis ich mit meiner Karriere fertig bin, hat er mich an der Backe.
Nach Ihrem WM-Silber hat Jürgen Sammert damit gehadert, dass noch mehr drin gewesen wäre.
SCHÄFER: Es ist schwer, ihn zufriedenzustellen. Schon nach meiner Bestleistung in Götzis haben wir gleich wieder überlegt, was noch anders werden muss. Gerade mein zweiter Tag hat noch Verbesserungspotenzial. Es sind Nuancen, aber man braucht einen perfekten Siebenkampf, um den deutschen Rekord zu knacken. Ohne den anderen zu nahe treten zu wollen: Ich bin momentan die Einzige, die in der Lage ist, den in Angriff zu nehmen, auch weil ich keine richtigen Schwächen habe. Damit könnte ich mich ein Stück weit unsterblich machen.