1. Startseite
  2. Welt

Wo die Rentiere wohnen

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Rentier in Norwegen
Rentiere leben im Norden in der freien Natur. Dennoch haben ihre Besitzer die Tiere immer im Blick – und umgekehrt. © Panthermedia/Pawel Opaska

Nichts war geplant. Nicht die Rentiere, nicht die Museumsleitung, nicht die traditionelle Musik. Doch über Umwege finden drei Menschen im norwegischen Trøndelag zu ihren samischen Wurzeln – und erzählen, jeder auf seine eigene Weise, die Geschichte ihrer Vorfahren weiter.

Von Sabrina Dämon

Ein Sommer in Tokyo hat gereicht. Danach wusste Sissel Stormo Holtan, wo sie hingehört. Dorthin, wo nur ein Schotterweg zu ihrem Haus führt, der nächste Nachbar hinter (mindestens) einer Kurve wohnt. Wo im Sommer Traktoren fahren, im Winter Schneemobile. Und wo sich der Alltag ihrer Familie nach den Rentieren richtet, die in den Bergen leben. 

„Sie sind jetzt irgendwo dort.“ Sissel umkreist mit ihrem Finger eine Hügelkette auf der anderen Seite des Tals. Etwa 25 Minuten sind es mit dem Auto bis zu den Bergen. Dazwischen liegen Höfe, Felder und Wälder. 

Vor zwölf Jahren ist Sissel wieder nach Hause gekommen. Zurück auf die norwegische Halbinsel Fosen. 

Sissel Storno Holtan, Rentierhirtin in Norwegen
Sissel Stormo Holtan hat vor zwei Jahren die Rentiere ihres Vaters übernommen. „Du wirst dich langweilen“, haben ihre Freunde prognostiziert. Doch, sagt Sissel: „Ich war noch nie so beschäftigt.“ © Sabrina Dämon

Nach der Schule geht sie fort zum Studieren. Nach Oslo, Bergen, dann nach Japan. Als die Familie zu Hause die Rentierkälber markiert, Sissel aber an die 15 Flugstunden entfernt und zum ersten Mal nicht dabei ist, sagt sie sich: „Das wird nie wieder vorkommen.“

Sie lacht und sagt: „Das ist dabei herausgekommen.“ Sie hockt vor einer Feuerstelle, Wollpulli an, Mütze auf dem Kopf. Über die rechte Hand zieht sie einen Handschuh und nimmt die eiserne Kaffeekanne vom Feuer. Es ist ein sonniger Morgen, doch allmählich beginnt der Herbst.  

Der Rentierhirsch im Gehege

Sissel ist Rentierhirtin, eine Samin aus Süd-Sápmi, dem Siedlungsgebiet des indigenen Volks im heutigen Norwegen. Ihr Großvater kam in den 1940ern aus einem nördlicheren Teil des Landes hierher, erzählt sie. Seither leben die Rentiere der Familie auf Fosen, und die Familie lebt von den Rentieren. Das Fleisch wird verkauft, das Fell verarbeitet. 

Noch ist es ruhig. Die Rentiere ziehen durch die Berge. Ihre Paarungszeit hat begonnen. Sissels Herde nimmt denselben Weg wie in jedem Jahr. „Im Winter an die Küste, im Frühjahr zurück in die Berge“ – wo die Renkühe ihre Kälber gebären. 

Sissel Stormo Holtan in Norwegen
Dort drüben, in den Bergen auf der anderen Seite des Tals, sind die Rentiere von Sissel Stormo Holtan. © Sabrina Dämom

Nur einer ist nicht bei der Herde. Svatn. Der Rentierhirsch lebt in einem Gehege, um den Hals trägt er ein Lederband. „Ich weiß nicht, ob er weiß, dass er ein Rentier ist“, sagt Sissel grinsend. 

Er läuft am Zaun entlang, schaut in ihre Richtung. Als sie auf ihn zugeht, steckt er die Schnauze durch den Maschendraht. Sissel nimmt Rentierflechte aus einem Sack, hält sie ihm hin. Er frisst ihr aus der Hand.

Ein befreundeter Rentierhirte hatte ihn vor Jahren als Kalb neben seiner toten Mutter gefunden und mitgenommen. Seither lebt Svatn bei Menschen.

Rentier in Norwegen
Rentierhirsch Svatn lebt bei Menschen – anders als seine Artgenossen. © Sabrina Dämon

Sissel ist zehn Autominuten weiter nördlich aufgewachsen. Mit ihren zwei Kindern leben sie und ihr Mann auf dem Hof seiner Eltern. Aejrie Sijte heißt die Gegend auf Südsamisch. Sijte bedeutet Dorf, Aejrie ist der Name des Orts, der auf Norwegisch Namdalseid heißt. Die meisten Nachbarn haben Kühe, Schafe oder Hühner. Bevor Sissel und ihr Mann Rentierhirten geworden sind, hatten sie auch Kühe. Doch, sagt sie, mit der Entscheidung, die Rentiere ihres Vaters zu übernehmen, haben sie die Kühe verkauft.

In Norwegen, so steht es im Gesetz, dürfen nur Samen Rentiere halten – also wer samische Wurzeln hat oder mit einem Samen oder einer Samin verheiratet ist. Ihr Mann, erzählt Sissel, habe vor ihr nie Kontakt mit Rentieren oder deren Haltern gehabt. „Aber es steht ihm sehr gut.“ 

Genauso wie Sissels Schwiegervater Per Furre. Er ist quasi der Bezugsmensch von Rentierhirsch Svatn. Per lässt Svatn aus dem Gehege. Die zwei gehen über die Wiese. Per vorneweg, Svatn hinterher. Einmal bleibt er stehen, frisst Gras. Dann schaut er sich um, sieht Per ein Stück entfernt und trottet zu ihm. Sissel beobachtet die beiden. „Fast wie ein Hund.“   

Rentierhaltung ist durch den Staat geregelt. Auf Fosen dürfen insgesamt 2100 Tiere leben. Sechs Hirten-Familien leben und arbeiten auf der Halbinsel, verteilt auf zwei Distrikte.

In beiden drehen sich seit eineinhalb Jahren Windräder. Der Fosen-Onshore-Windpark ist einer der größten in Europa. Den Rentierhirten macht er Schwierigkeiten. 

Ihre Tiere fürchteten sich vor den Windrädern, die sich im ursprünglichen Rentier-Revier drehen. Das habe zu Unruhe in der Herde geführt, sich auf das Paarungsverhalten ausgewirkt. Dieses Jahr seien nur wenige Kälber geboren.

Der Windpark auf Fosen

Das Oberste Gericht in Norwegen hat entschieden. Im Oktober 2021. Der Bau von 151 Windrädern auf der Halbinsel Fosen in Trøndelag ist rechtswidrig gewesen – weil die Rechte eines indigenen Volks missachtet werden und somit gegen internationale Konventionen verstoßen wird. Rentiere der auf Fosen lebenden Samen sind auf dem Areal umhergezogen und haben dort geweidet. 

Doch die Turbinen drehen sich noch. Wie es mit den Anlagen weitergehen soll, hat das Gericht offengelassen. Das Urteil bezieht sich auf zwei der sechs Windparks auf Fosen. Alle Areale einberechnet, ist der Park einer der größten auf Land gebauten in Europa, dessen Volumen bei 1,12 Milliarden Euro liegt. Die vom Urteil betroffenen 151 Anlagen versorgen rund 100.000 Haushalte. Vonseiten des teilhabenden Unternehmens Startkraft (ein staatlicher Energiekonzern) hieß es nach dem Urteil, man wolle im Dialog mit den Samen eine Lösung finden, wie die Windräder betrieben werden könnten. Mehrere Investoren, auch aus dem Ausland, haben Anteile, etwa die Stadtwerke München.   

Schon lange hatten Rentierhirten kritisiert, dass die Anlagen ihre Lebensgrundlage zerstörten. Die Tiere fürchteten sich vor den Geräuschen und der Größe der Windräder und mieden sie in weitem Umkreis. Kritiker des Windparks sprechen von „grünem Kolonialismus“. Sissel Stormo Holtan, eine Samin von Fosen, berichtet, ihre Rentiere seien im Winter stets zur Küste gewandert, wo es Fressen gebe. Jetzt, mit den Windrädern, sei es „ein verlorenes Areal“. Als das Urteil gefallen sei, hätten sie und andere geglaubt, die Anlagen würden abgebaut: „Wir sagten, wir haben gewonnen. Aber wir haben keine Ahnung, was genau wir gewonnen haben.“ Es gehe um viel Geld, für Investoren und für Landbesitzer „Aber wir können kein Geld essen. Ich denke, ich kann länger ohne Elektrizität als ohne Essen leben“, sagt sie. „Wenn das Oberste Gericht die Baugenehmigung für ungültig erklärt, aber nichts passiert, stimmt etwas mit dem System nicht.“

Von der Rentierhaltung allein ließe sich kaum leben. Auch Fressfeinde wie Adler, Bärenmarder und Luchse sorgten für eine Dezimierung der Herde. Adler etwa holten sich Kälber und attackierten ausgewachsene Rentiere. 

Vom Staat gebe es Entschädigungszahlungen. „Unser Ziel ist es aber, von dem Fleisch zu leben, das wir verkaufen. Nicht von dem Geld, das wir dafür bekommen, weil Raubtiere all unsere Rentiere gefressen haben“, sagt Sissel. „Das ist nicht, wie wir leben wollen.“

Mit dem Schneemobil durch die Berge

Ihr Handy klingelt. Morgen passe es gut, sagt sie zu dem Anrufer. Sie wollen Rentierflechte pflücken, die überall in der Gegend wächst. Ein Rentier braucht im Winter zwei Kilo davon pro Tag.

„Ich kann die meiste Zeit draußen sein. Das passt gut zu mir“, sagt Sissel. Als sie sich dazu entschieden hat, die Familientradition fortzuführen, haben ihre Freunde prognostiziert: „Du wirst dich hier langweilen.“ Aber, sagt sie lachend: „Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so beschäftigt.“ 

Vor allem die bevorstehende Winterzeit wird eine arbeitsreiche: Morgens um sieben das Haus verlassen, mit dem Auto bis zum Ende der Straße fahren, aufs Schneemobil steigen, damit zur Herde. Dort, erzählt Sissel, machen sie ein Feuer, sitzen bei der Herde, trinken Kaffee – „damit die Rentiere wissen, wir sind da.“

Besucher in der Kote

Durch ein staatliches Programm gebe es einen zusätzlichen Einkommenszweig – ein Bildungsprojekt. Deswegen kommen regelmäßig Besucher, alte und junge, zum Hof. Neulich erst ein ganzer Bus. Sissel und ihr Mann empfangen sie in der Kote, die sie 200 Meter oberhalb des Hofs gebaut haben. Das Zelt ist einer traditionellen Samen-Behausung nachempfunden. In der Mitte eine gemauerte Feuerstelle, drumherum Holztische und Bänke, auf denen Rentierfelle liegen. Den Gästen erzählt Sissel von ihrer Arbeit und beantwortet Fragen: Warum gibt es hier Rentiere? Wofür brauchen die Samen so viel Land? Wie leben Rentierhirten? „Wissen führt zu Verständnis für andere Lebensarten“, sagt Sissel. „Das vermeidet Konflikte.“

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so beschäftigt.

Sissel Stormo Holtan

Vor Kurzem war eine Gruppe Kinder da. Es gibt Fotos von dem Besuch: Vor der Kote probieren sich ein paar im Rentierfangen aus. Ein Mädchen spielt die Hirtin, ein Junge das Rentier. Sie hält ein Seil, holt aus zum Wurf, er streckt die Arme seitlich aus. Ein anderer Junge hält ein Rentiergeweih an seinen Kopf. 

Die fast vergessene Sprache

Mit Pädagogik kennt Sissel sich aus. Als Lehrerin hat sie Englisch und Spanisch unterrichtet.  Spanisch, weil sie für vier Monate in Guatemala gewesen ist. „Ich bin froh darüber, die Welt bereist zu haben und nun zu wissen, wo ich zu Hause bin. Ich hoffe, unsere Kinder werden es auch so machen.“

Die zwei wachsen mehrsprachig auf. Norwegisch, Japanisch, ein bisschen Englisch – und Südsamisch. Die Sprache, die Sissels Großvater gesprochen, aber die ihr Vater nie gelernt hat. Sissel hat, nachdem sie zurückgekehrt war, einen Südsamisch-Kurs besucht; ihre Kinder lernen die Sprache in der Schule. Diese Möglichkeit gibt es noch nicht allzu lange. Viele Jahre sei es verpönt gewesen, samisch zu sprechen. Samen waren für viele Norweger eine unbeliebte Minderheit. „Wahrscheinlich hat mein Großvater mit meinem Vater und Onkel deswegen nur norwegisch gesprochen.“

Als Same ausgegrenzt

So wie Birgitta Fossums Vater. Nur die Großeltern haben die andere Sprache gesprochen. Birgitta erinnert sich noch: Sie und ihre Schwester waren Kinder und häufig zu Besuch bei Oma und Opa. „Wir haben gefragt, was sie da sagen“, erzählt sie. „Sie haben gesagt, es ist ihre geheime Sprache.“ 

Birgitta Fossum in Snasa
Dr. Birgitta Fossum leitet das Museum in Snåsa. Sie möchte Besuchern dort die Geschichte der südlichen Samen erzählen. © Sabrina Dämon

Birgittas Vater ist damit aufgewachsen, hat die nordsamische Sprache als seine Muttersprache gelernt. Doch in der Schule sei er dafür ausgegrenzt worden, auch geschlagen. Irgendwann, erzählt seine Tochter Birgitta, habe er aufgehört, die Sprache zu sprechen – und versucht, damit aufzuhören, ein Same zu sein.

Es ist eine andere Zeit, von der Birgitta erzählt. Eine, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegt. Und in der die norwegische Gesellschaft auf die Samen herabblickte. 

Birgitta sitzt in einem hellen Raum. Vor den Fenstern Wald. Das Büro ist neu, vor wenigen Monaten fertig worden. So wie der gesamte Gebäudekomplex. Ein Holzbau auf einer Anhöhe, umgeben von Bäumen. Würde von der Hauptstraße nach Snåsa kein Schild mit der Aufschrift „Saemien Sijte“ den Weg weisen, würde kaum jemand die Abzweigung nehmen.

„Saemien Sijte“ ist der Name des Museums, das Birgitta seit zwölf Jahren leitet. Das Museum gibt es seit 1980. Hier, auf dem Hügel, aber erst seit vergangenem Sommer. 

Museum, Samen, Norwegen
„Saemien Sijte“: Das Museum hat in diesem Jahr an einem neue Ort auf einer Anhöhe vor Snåsa eröffnet. Neben der Präsentation samischer Kultur in der Dauerausstellung ist es auch Kulturzentrum und Treffpunkt. © Sabrina Dämon

Noch wird gearbeitet. Der Hauptausstellungsraum ist geschlossen. Im Foyer sitzt dennoch eine kleine Gruppe. Frauen, die Kaffee trinken, sich unterhalten. Leute aus Snåsa, sagt Birgitta. „Sie kommen regelmäßig, um in der Atmosphäre dieses Orts zu sein.“

Birgitta öffnet die Tür. Es ist dunkel, nur die Exponate werden angeleuchtet. Eine Ecke ist noch Baustelle. Holzpfähle stehen dort. Es soll der Nachbau einer samischen Behausung aus früheren Zeiten werden. Die Vitrinen sind schon bestückt. Schmuck, Taschen, Schuhe. Die Ausstellungsstücke erzählen von den samischen Traditionen.

Birgitta kam zum ersten Mal zum Graben hierher. Sie stammt aus Nord-Norwegen. Oder: aus Nord-Sápmi, dem nördlichen Gebiet der Samen. Als promovierte Archäologin ist sie an einem Projekt der EU beteiligt gewesen, in dem es um die Geschichte der Gegend um Snåsa ging.

In der Gemeinde leben viele Samen. Am Rathaus wehen die norwegische und die samische Flagge, das Ortsschild hat zwei Zeilen (samisch: Snåase, norwegisch: Snåsa). In der Schule lernen Kinder Südsamisch, das Parlament der Samen (Sameting) hat ein regionales Büro hier.

Snasa in Norwegen
Snåsa im norwegischen Trøndelag ist ein Zentrum südsamischer Kultur; hier gibt es eine samische Schule und ein regionales Büro des Samen-Parlaments. © Sabrina Dämon

„Die Direktoren-Stelle wurde frei, und ich habe meine Bewerbung geschickt“, erzählt Birgitta. Sie überlegt kurz. „Und es gibt natürlich einen anderen Grund: wegen meiner Herkunft. Es war vielleicht mein Weg, zu meinen Vorfahren zurückzukehren.“

Als Birgitta neun war, starb ihre Großmutter. Sie lebte im Norden am Meer. Anders als die Rentierhirten lebten die Samen an den Küsten hauptsächlich vom Fischfang. Wegen der Großeltern habe sie es immer irgendwie gewusst. „Aber erst später habe ich es realisiert: Natürlich bin ich Samin“, sagt Birgitta. „Ich hätte gerne als Erwachsene mit meiner Großmutter geredet. Um ihre Version der Geschichte zu hören.“ Und um von ihr zu lernen. „Ich weiß, dass sie eine exzellente Duojár war.“

Duojár – die südsamische Bezeichnung für die, die das Kunsthandwerk (Lederarbeiten, Schmuckherstellung, Nähen) beherrschen. Im Museum gibt es Raum dafür. In einem Teil des Gebäudes sind Werkstätten, in denen Besucher arbeiten können und in denen Seminare angeboten werden.

Von Unterdrückung und Kämpfen

Es gibt nicht die eine Zielgruppe für das Museum, sagt Birgitta. Einerseits sind es Museumsgänger aus Norwegen und aus anderen Ländern, die etwas über Samen erfahren möchten. Andererseits „sind die Samen aus Süd-Sápmi unsere Zielgruppe“. Das Museum sei in gewisser Weise ihr Ort – an dem sie miteinander ihre Sprache sprechen können, die Geschichte ihrer Vorfahren erleben, erforschen und an dem sie in deren Tradition arbeiten können.  

Birgitta führt durch die dafür eingerichteten Räume. Einer ist für Schreinerarbeiten. Sägen, große und kleine, stehen darin. Der Nachbarraum ist für feinere Handarbeit, zum Nähen beispielsweise. Birgitta geht in den letzten Raum, ein Schlauch hängt an der Wand. Zum Abspritzen des Bodens, erklärt sie, weil es manchmal blutig wird. Hier wird Rentierfell verarbeitet.

Birgitta holt einen kleinen Schlüssel. Er ist für die Vitrine im Foyer. Ein Kleid hängt darin, in einem Koffer liegt eine Mütze, daneben ein Zettel. Albert Jåma hat die Stücke dem Museum gegeben, steht darauf. Er ist ein alter Mann, der in der Nähe wohnt. Dem Museum hat er die Gegenstände seiner Großmutter überlassen: Elsa Laula Renberg. Sie hat vor über 100 Jahren, am 6. Februar 1917, in Trondheim die erste internationale Versammlung der Samen initiiert. Und ihr ganzes Leben gegen die Unterdrückung ihres Volks gekämpft. 

Auch diese Geschichten werden im Museum erzählt. Die Archive berichten davon. Von der im 19. Jahrhundert von der Regierung begonnenen „Norwegisierung“, in deren Folge es Samen immer schwerer gemacht wurde, Land zu nutzen, und ihre Sprache in Schulen verboten wurde. Von dem Widerstand dagegen. Und von den vergangenen Jahrzehnten und dem neuen, stolzen Umgang mit der Kultur.

Ich möchte daran mitwirken, die Geschichte der Samen so zu schreiben, wie sie gewesen ist.

Birgitta Fossum

Birgitta möchte diese Geschichten erzählen. „Ich sehe die Arbeit hier als Möglichkeit, Forschung zu betreiben.“ Über das Siedlungsgebiet der Samen gebe es viele Theorien, eine besage, die Samen seien erst im 16. Jahrhundert nach Süd-Sápmi gekommen. „Obwohl das archäologische Material etwas anderes erzählt.“ Deswegen, sagt die Museumsleiterin, möchte sie daran mitwirken, „die Geschichte der Samen so zu schreiben, wie sie gewesen ist“. Und diese im Museum zu zeigen, zu präsentieren und zu teilen. 

Mit dem Camper zum Konzert

Dort, 40 Jahre früher, durchforstet Frode Fjellheim die Archive. Er ist noch nicht lange mit seinem Musikstudium fertig – und eigentlich Pianist. „Saemien Sijte“ hat gerade eröffnet, und sein Vater bekommt die Stelle des Direktors. Im Museum entdeckt Frode die Musik seiner Vorfahren. Heute tritt der südsamische Musiker in vielen Konstellationen und weltweit auf. 

Nach Levanger kommt er mit dem Campervan. Dort trifft er sich mit den anderen zum ersten Probentag. Das Konzert ist übermorgen. Bis dahin steht Frodes Bett auf einem Waldparkplatz. Sein Fahrrad hat er auch mitgenommen. Vielleicht findet er Zeit für eine Tour. 

Als Disney nach Trondheim kam

Frode lebt in Trondheim. Die Stadt, in der er studiert hat und in der er zum Filmmusiker geworden ist. Er grinst beim Erzählen: Die Leute von Disney waren auf der Suche – und sie kamen nach Norwegen. Sie brauchten Musik aus dem Norden. Nach Winter, Schnee und Eis sollte sie klingen. 

Im Plattenregal des Musikmuseums Ringve in Trondheim fanden sie, was sie suchten: auf einer CD mit dem Titel „Norwegian Voices“. „Ich hatte das Stück vor langer Zeit für einen Chor geschrieben“, erzählt Frode. „Sie fragten, ob sie es haben können“ – mit ein paar Änderungen. 

Samische Musiker möchten ihre Tradition teilen.

Frode Fjellheim

Er schreibt eine neue Version, und wenig später ist sie in Kinos auf der ganzen Welt zu hören: im Disney-Film „Frozen“ (der deutsche Titel: „Die Eiskönigin“). Das Lied heißt „Vuelie“ – das  südsamische Wort für Joik. Der traditionelle Gesang der Samen gilt als eine der ältesten Liedformen der Welt. 

„Man könnte sagen, Joik ist Musik. Aber er ist weit mehr“, sagt Frode. „Joik ist für Samen eine Form der Kommunikation, ein Mittel, um Dinge auszudrücken und zu beschreiben.“ Etwa beim Joiken einer Bergkette. Die Form – Hügel, Tal, hoch, tief – ist mit Tönen darstellbar, erklärt Frode. „Die daraus entstehende Melodie ist ein fantastisches Werkzeug, um Musik zu komponieren.“


Musik macht er in vielen Variationen und Konstellationen. Als Solokünstler, in Bands, als Chorleiter. Manchmal mit samischen Künstlern, manchmal mit Orchestern oder norwegischen Musikern. Doch: „Joik-Elemente kommen immer vor.“ 

So wie heute. Frode ist Gastmusiker bei der norwegischen Folk-Band Gras. Die Musiker proben für ihr Open-Air-Konzert – in der Ruine des Klosters Munkeby. Der Ort liegt in einer Senke, umgeben von Birken, wenige Kilometer von der Stadt Levanger entfernt. Im 12. Jahrhundert war hier das nördlichste Kloster der Erde. 1567 brannte die Anlage ab. Ein paar Mauerreste der Kirche stehen noch.

Zwischen ihnen ist die Bühne aufgebaut. Harfe, Trommeln, Gitarren darauf. Und, für Frode, ein E-Piano. 

Kloster Munkeby Levanger
Die Bühne ist zwischen den Mauerresten einer ehemaligen Klosterkirche aufgebaut. Hier probt die Folk-Band Gras für ein Konzert. © Sabrina Dämon

Jeanette Hoseth ist die Verbindung zwischen Frode und der Band. Sie ist die Lead-Sängerin von Gras und ehemalige Schülerin von Frode. Bei ihm hat sie die Grundlagen des Joikens gelernt. 

Es ist eine Weile her, erzählt sie. „Beim ersten Kurstermin hat er mit einem Käsehobel ein Stück von einem Käse abgeschnitten“, es ihr hingehalten und gesagt: „Joik das.“

Frode lacht über die alte Geschichte. Ja, sagt er, „mit Joik lässt sich fast alles beschreiben“. Joik sei ohnehin eher Kommunikationsmittel als Bühnenmusik. Doch in den vergangenen Jahrzehnten habe sich viel geändert. „Samische Musiker möchten ihre Tradition in einer ähnlichen Weise teilen, wie andere Musiker es tun.“ 

In der Klosterruine wird es voll. Der Chor und die Tanzgruppe sind angekommen. Sie verteilen sich auf den Klappstühlen, auf denen übermorgen die Zuschauer sitzen werden. 

Sie sind wie Frode Gast beim Gras-Konzert. Noch haben sie Zeit bis zu ihrem Auftritt. Bis dahin verfolgen sie die Proben. Die Musiker von Gras spielen ihre Songs, dazwischen tritt Frode auf. Er spielt Piano und joikt. 

Frode Fjellheim, Levanger Norwegen
Frode Fjellheim tritt in einer Klosterruine in der Nähe der Stadt Levanger auf. © Sabrina Dämon

Als er endet, klatschen und pfeifen die Chormitglieder. Eine der Gras-Musikerinnen sagt: „Wir sind sehr froh, dass Frode dabei ist. Er hat die Kraft der Erde.“

Mit der samischen Tradition hatte er schon immer Kontakt – wegen der Familie väterlicherseits. Als Frode noch ein Kind war, besuchte er im Sommer die Verwandten in Røros, die dort als Rentierhirten lebten. Später arbeiteten seine Eltern, beide Lehrer, in Karasjok, dem Zentrum nordsamischer Kultur in Norwegen. „So habe ich die Kultur auf zwei Wegen kennengelernt.“

In meiner Familie war die Joik-Tradition fast verschwunden.

Frode Fjellheim

Über Joik habe er dennoch kaum etwas gewusst. „In meiner Familie war die Tradition fast verschwunden.“ 

Doch der Vater wechselt den Beruf, nimmt die Stelle als erster „Saemien Sijte“-Direktor in Snåsa an. „Dadurch hatte er Zugang zu dem Archiv-Material.“ Er zeigt seinem Sohn die Musik der Vorfahren. 

Fortsetzung für die „Eiskönigin“

Frodes erste Komposition mit Joik-Einflüssen entsteht Anfang der 90er. Eine Theatergruppe fragt, ob er die Musik für ein samisches Stück komponieren könne. „Dadurch war ich gezwungen, tiefer einzutauchen. Seither habe ich nicht mehr damit aufgehört.“

Als 2017 das 100-jährige Jubiläum des ersten internationalen Samen-Kongresses in Trondheim gefeiert wird, arrangiert Frode mit anderen Musikern das Festkonzert. Regelmäßig gestaltet er Chor-Auftritte, arbeitet an Projekten mit Samen-Künstlerinnen wie Mari Boine oder Marja Mortensson. Und als Disney eine Fortsetzung der „Eiskönigin“ macht, schreibt Frode ein weiteres Stück: „Reindeer Circle“. 

Auf Reisen Inspiration finden

Frode kommt von der Bühne. Sein Part ist vorbei. Er geht zum Parkplatz. „Der Campervan ist mein neuestes Projekt.“ Für das Levanger-Konzert ist er praktisch. Der eigentliche Plan ist aber, damit durchs Land zu reisen. „Meine Arbeit und die vielen Gemeinschaftsprojekte sind fantastisch, aber es kostet eine Menge Zeit.“ Das seit fünf Jahren geplante Solo-Album verschiebe sich immer weiter nach hinten, sagt Frode. Deswegen wolle er ab und zu raus, mit dem Camper durch die „Natur Norwegens reisen – und Inspiration finden.“ Für weitere Projekte. 

„Ich kenne nichts anderes außer Musik“, sagt er. „Ich versuche weiterzumachen, solange es geht.“ Mit Solo-Projekten und mit Chorarbeit, in Bands und als Gesangslehrer. Es ist sein Weg, die samische Tradition fortzuführen. Birgitta Fossum hat für sich den der Wissenschaft gewählt, sucht als Archäologin in der Erde und als Museumsleiterin in Archiven. Sissel Stormo Holtan hat die Welt bereist, um zu erkennen, dass sie zu ihrer Rentierherde in den Bergen Trøndelags gehört. Es sind drei ganz unterschiedliche Menschen, die doch in eine Richtung gehen: Sie schreiben die Geschichte ihrer Vorfahren voller Stolz weiter. (Sabrina Dämon)

Diese Reportage ist im Rahmen des Projekts „Talents2Norway“ entstanden und auf Einladung von „Innovation Norway“ und „Trøndelag Reiseliv“.

Auch interessant

Kommentare