Aufwind oder laues Lüftchen

Seit Jahren machen immer weniger junge Menschen eine Ausbildung im Handwerk. Für die ersten Monate 2016 steht jetzt ein fettes Plus. Ist langfristige Besserung in Sicht?
Abi – und jetzt? Für Alexander Mathes kommt vor drei Jahren nichts anderes in Frage als ein Studium. Wofür hatte er sonst zwölf Jahre die Schulbank gedrückt? Er sucht einen Studiengang – und merkt schnell: Das war die falsche Entscheidung. Heute geht der 21-jährige Nürnberger nicht mehr in den Hörsaal, sondern in die Werkstatt. Seit September absolviert er eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker anstelle des Wassertechnologie-Studiums. Auch Patricia Borna, Pressesprecherin der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main, bestätigt: „In Hessen ergreifen immer häufiger junge Menschen eine Duale Ausbildung, die von der Hochschule kommen und dort nicht glücklich geworden sind.“
Viele Stellen unbesetzt
Die Geschäfte im Handwerk laufen glänzend – und doch gibt es ein Problem. Jedes Jahr bleiben Tausende Stellen unbesetzt, lange entschieden sich immer weniger junge Menschen für eine Ausbildung an der Werkbank. Doch jetzt scheint Besserung in Sicht. 2015 gab es bundesweit ein Mini-Plus neuer Ausbildungsverträge von 0,1 Prozent. Und für die ersten Monate 2016 haben die Statistiker ein saftiges Plus errechnet: bis Mai fünf Prozent. Die Rhein-Main-Region verzeichnete im Wonnemonat einen kräftigen Azubi-Zuwachs von 4,8 Prozent zum Vorjahresmonat.
Das Ende des Negativtrends? Bei den zuständigen Kammern ist man erfreut – drückt aber noch auf die Euphoriebremse. „Das ist ausgezeichnet“, sagt Alexander Legowski, Sprecher des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) in Berlin. Dennoch seien die Zahlen mit Vorsicht zu genießen, mahnt er – und Patricia Borna pflichtet ihm bei. Die aktuelle Juni-Statistik der Region um Frankfurt stützt ihre Vorsicht, denn im Vergleich zum Vorjahresmonat wurden 4,3 Prozent weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen.
Ein Jahrestrend lasse sich durch die Betrachtung einzelner Monatserhebungen ohnehin nicht ableiten, erklärt sie: „In der Entscheidungskette steht das Handwerk für viele Schulabgänger nicht an erster Stelle.“ So falle die Entscheidung, in besagtem Metier eine Ausbildung zu ergreifen, oft erst spät im Jahr. „Es ist also noch ein bisschen früh, um etwas Belastbares zu sagen“, so Borna. Grundsätzlich gelte aber: Die Zahlen bleiben seit Jahren ungefähr gleich. „Rund 10 000 Menschen sind im Kammerbezirk in Ausbildung, doch stets bleiben Hunderte Stellen unbesetzt“, konkretisiert Borna. Trotzdem ist sie überzeugt, dass das Werben um Nachwuchs langsam Früchte trägt: „Immer mehr jungen Leuten sind die Möglichkeiten im Rahmen einer Dualen Ausbildung im Handwerk bekannt.“
Kampagnen in sozialen Netzwerken, aufwendige Werbefilme, riesige Werbeplakate – im aktuellen Spot befreit sich ein junger Mann von der Krawatte und springt vom Schreibtisch an die Werkbank. „Entdecke dein wahres Ich und einen von 130 Berufen“. Mittlerweile gibt es Beratungsstellen für Abiturienten und Studienabbrecher sowie assistierte Ausbildungen für Leute, die sich mit einem geregelten Berufsleben extrem schwertun.
Hans Dietrich vom Institut für Arbeitsmarktforschung in Nürnberg verweist auf die gestiegenen Schulabgängerzahlen in Bayern. Laut Prognose des Kultusministeriums kämen in diesem Jahr etwa 4400 Schulabgänger mehr auf den Markt als 2015. Viele von ihnen dürften sich für einen Handwerksberuf interessieren, sagt Dietrich. Doch auch er ist vorsichtig: „Das sind derzeit alles Hypothesen, man wird noch abwarten müssen, wie die Bilanz am Ende aussieht.“
Ohnehin profitieren längst nicht alle von dem Positivtrend. „Ich sehe da keinen Aufwind“, sagt Dirk Hoerr. Hoerr ist Chef des Autohauses Hoefler, in dem Alexander Mathes seine Ausbildung absolviert. Der Unternehmer hat für September noch keinen Azubi gefunden. „Hände schmutzig machen und über dem Kopf arbeiten – das will heute niemand mehr.“
Kurzer Weg zum Meister
Mathes hingegen hat schnell gemerkt, dass Studieren nicht sein Ding ist. So erst kam ihm die Möglichkeit einer Ausbildung in den Sinn. Heute absolviert er das Programm „Abi + Auto“: verkürzte Ausbildung und ein schnellerer Weg zum Meister. Hier werden die Führungskräfte von morgen ausgebildet. „Die beste Arbeitslosenversicherung ist eigentlich, den Meisterbrief im Handwerk zu machen“, sagt Legowski. Seit 2005 hat sich der Anteil der Azubis mit Abi in Bayern fast verdreifacht, im Bund mehr als verdoppelt. Die Hauptklientel der Handwerksbetriebe besteht trotzdem noch immer aus Hauptschülern. Insgesamt beschäftigte das Handwerk 2015 rund 364 000 Lehrlinge.
„Berufseinsteigern sollte klar sein, wie gut die Perspektiven im Handwerk sind“, betont Borna. Knapp 30 Prozent der Meister würden mehr verdienen als der durchschnittliche Akademiker. Zum Teil überschreite das Gehalt eines Handwerkers sogar jenes von Ärzten und Ingenieuren. Umgekehrt betrachtet würden sogar 25 Prozent der Akademiker im Durchschnitt weniger verdienen als ein Meister oder Techniker.
„Es muss auch nicht immer das Abitur sein“, verdeutlicht Borna: Knapp 25 Prozent der Top-Verdiener unter den Meistern und Technikern hätten nur einen Hauptschul- und etwa 50 Prozent einen Realschulabschluss.