Brexit: Chance für Frankfurt

Beantragen die Briten Ende Juni tatsächlich die Scheidung von der EU, müssten Banken und andere Finanzdienstleister aller Voraussicht nach Niederlassungen in der Union auf- oder ausbauen.
Mit einigem Unbehagen blicken derzeit besonders viele Banker in der Londoner City auf den 23. Juni, wenn die Untertanen Ihrer Majestät über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union abstimmen. Denn käme es tatsächlich zum „Brexit“ wären wohl viele gezwungen, die glamouröse Weltstadt zu verlassen und in eine andere Finanzmetropole in der EU zu ziehen. Und wer weiß schon, wohin der Arbeitgeber dann einen hinschickt? Fast alle europäischen Finanzplätze dienen sich bereits als Fluchtort für die steuer- und zahlungskräftige Klientel von der Insel an. Paris will Londoner Banker, Anwälte und Fonds-Manager mit französischer Lebensart und dem Image einer Weltmetropole locken, Mailand mit italienischem „dolce vita“, Dublin mit der Nähe zur Nachbarinsel, der englischen Sprache und den niedrigen Steuern, und Frankfurt wirbt mit dem Sitz der Europäischen Zentralbank (EZB), der herausragenden IT-Infrastruktur, den vergleichsweise geringen Mieten und Lebenshaltungkosten sowie guter Verkehrsinfrastruktur.
Faktoren, die auch Gertrud R. Traud aufzählt und sie optimistisch für Frankfurt als Alternative zur britischen Hauptstadt stimmen. „Der Finanzplatz Frankfurt könnte bei einem ’Brexit’ durchaus gewinnen – er ist auch durch die substanzielle Fortentwicklung der Finanz-Lehre und -Forschung dafür gut positioniert“, so die Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba). Außerdem gingen die Banken dorthin, wo die Märkte seien, und „da steht Frankfurt im Herzen der stärksten Volkswirtschaft Europas gut da“, sagte Traud anlässlich der gestern in Frankfurt vorgestellten Studie „Finanzplatz Frankfurt bewegt sich weiter“ – demnach liegt die Londoner City zwar immer noch weit vor Frankfurt, aber den Finanzplatz Paris hat die Main-Metropole in den vergangenen Jahren deutlich überholt. Diesen Vorsprung könnte Frankfurt bei einem „Brexit“ nun weiter ausbauen. „Die Verlagerung von internationalen Finanzgeschäften und -mitarbeitern von der Themse wäre am Main sicherlich spürbar, so dass das deutsche Finanzzentrum aufgewertet würde“, sagte Traud.
Wie viele Mitarbeiter die großen Investmentbanken, Handelshäuser und Vermögensverwalter – die derzeit noch von London aus ihre EU-weiten Geschäften steuern– theoretisch von der Themse an den Main schicken könnten, ist indes unsicher. Während im Großraum Frankfurt laut Helaba-Studie rund 62 500 Menschen für 182 Banken arbeiten, sind in London 114 000 Beschäftigte bei 264 Banken tätig. Blickt man auf die gesamte Londoner Finanzbranche, kommt man auf fast 400 000 Beschäftigte. „In der Branche wird damit gerechnet, dass bei einem Brexit knapp zehn Prozent der Beschäftigten abwandern würde, das hieße also, zwischen 11 000 und fast 40 000“, führt Traud aus.
Es geht um den Pass
Wie viele ein Brexit am Ende in die EU brächte, hängt letztlich davon ab, was Großbritannien nach der Scheidung behalten dürfte. Und da geht es vor allem um den „EU-Pass“, der die Finanzinstitute berechtigt, von London aus ihre Dienstleistungen im gesamten EU-Binnenmarkt anzubieten. Sollte Großbritannien aus der Union austreten, würde den dort ansässigen Banken – zum Beispiel aus den USA – dieses Privileg vermutlich verweigert. „Ohne EU-Pass müssten sich internationale Banken neue Standorte suchen“, sagte Traud. Es sei daher kein Wunder, dass gerade internationale Großbanken die Kampagne für den Verbleib in der EU unterstützten. Zumal ein Brexit schon wegen der darauffolgenden zweijährigen Verhandlungsphase über Einzelheiten des Austritts negative Folgen auf den Finanzplatz London hätte, weil die entstehende Verunsicherung zu geringeren Investitionen führe.
Inwieweit sich Londoner Banken auf einen Brexit vorbereiten und dabei für Frankfurt planen, ist noch unklar. „Uns selbst liegt noch keine konkrete Anfrage vor“, sagt Olaf Atja Lemmingson von der Wirtschaftsförderung Frankfurt. „Aber wir hören von hiesigen Markt-Akteuren, dass es die eine oder andere entsprechende Überlegung gibt.“ Ähnlich äußert sich Hubertus Väth, Geschäftsführer der Finanzplatz-Initiative Frankfurt Main Finance e.V.: „Wir wünschen uns den Brexit nicht, er wäre schlecht für Deutschland, Europa und Großbritannien“, schickt er voraus. „Aber sollte er kommen, handelt es sich um eine klare Chance für den Finanzplatz Frankfurt. Wir wissen von wesentlichen Banken in London, dass dort über die Verlegung zahlreicher Funktionen nach Kontinentaleuropa gesprochen wird. Frankfurt ist dabei als nahe liegende Option gesetzt. Dabei halten wir die Verlagerung von Mitarbeitern in fünfstelliger Höhe für möglich.“